Die neurophysiologisch adaptierte Definition der (vertebralen) Subluxation [14], wie im vorherigen Blogbeitrag beschrieben, berücksichtigt neben den peripheren Effekten insbesondere Effekte auf das zentrale Nervensystem.
Das zentrale Nervensystem (ZNS) lässt sich didaktisch in die spinale und die supraspinale Ebene unterteilen, wobei alle Strukturen des ZNS komplex miteinander vernetzt sind. Daher können diese für die Beurteilung der individuellen Anpassungen und Effekte chiropraktischer Justierungen nicht isoliert betrachtet werden [2; 6; 12; 17].
Das Ziel chiropraktischer Justierungen ist die Beseitigung der Ursachen der im Bewegungssystem bestehenden Subluxationen und Fixationskomplexe [9]. Diese sind i.d.R. durch übergeordnete suprasegmentale und zentralnervöse Kontroll- bzw. Störungsmechanismen verursacht [2; 7; 9; 10; 11; 12]. Dies sind zum einen kortikale und zerebellare Dysbalancen (Hemisphärenschwächen) auf der Basis transneuraler Degenerationen (TND) [2; 7; 12], auf der anderen Seite periphere Injury-Muster (Störfelder) [16].
Injury-Muster
Injury-Muster sind neurologische Dysbalancen, entstanden durch feste propriozeptive und nozizeptive Fehlprogramme aus einer Verletzung (Injury, z.B. mechanische Gewebsverletzungen, Vernarbungen, Scherbelastungen von Haut, Unterhaut und Faszien) mit persistierenden Rezeptorstörungen [7]. Diese persistierenden Rezeptorstörungen bedingen propriozeptive Fehlprogramme mit daraus veränderten Haltungs- und Bewegungsprogrammen mit einhergehenden segmentalen Subluxationen und Fixationskomplexen. Die dadurch bedingten propriozeptiven Störungen in Verbindung mit den fortbestehenden nozizeptiven Stimulationen können zu einer Adaptation des Kleinhirns (Zerebellum) führen. Nach SCHMITT [15] kann sich die Neuroplastizität des Zerebellums so an diese Dysbalancen anpassen, dass die Funktionsstörungen als neue Normalität integriert werden. Dies kann für die Rezidivierung von Subluxationen resp. segmentaler Fixationskomplexe verantwortlich sein.
Hemisphärenschwächen – Hemisphericity
Neben den relativ leicht aufzufindenden Injury-Mustern als mögliche Ursache segmentaler Fixationskomplexe stehen insbesondere übergeordnete suprasegmentale und zentralnervöse Kontroll- bzw. Störungsmechanismen (Hemisphärenschwächen bzw. Hemisphärendysfunktionen – Hemisphericity) im Fokus der neurozentrierten chiropraktischen Diagnostik, da die Identifikation dieser nicht nur die mittelbare Ursache der Funktionsstörungen (Subluxationen) klären, sondern auch relevant für die Intensität und die Lokalisation der individuellen chiropraktischen Justierungen sind [7; 8]. Dies erfordert nach GARTEN [7] ein minimales funktionsneurologisches Untersuchungsprogramm, da die chiropraktische Justierung segmentaler Fixationskomplexe zentralnervöse Dysbalancen berücksichtigen und diese nicht unbeabsichtigt verstärken sollte. So sollte eine schwache Hemisphäre (z.B. des Zerebellums oder des Cortex) bzw. ein insuffizientes Netzwerk einer Hemisphäre afferent stimuliert werden und nicht die Gegenseite, da dies eine Hemisphärendysfunktion (Hemisphericity) verstärken könnte und die Symptomatik des Patienten weiter verschlimmert oder zumindest manifestiert [vgl. auch 12].
Das Kleinhirn im Zentrum motorischer Fehlsteuerungen
Im Zentrum motorischer Fehlsteuerungen steht das Kleinhirn (Zerebellum), da die Ia- und II-Afferenzen der Muskelspindeln sowie die Afferenzen der Typ-I- und Typ-II-Gelenkrezeptoren über die Tractus spinozerebellaris und cuneozerebellaris zum ipsilateralen Zerebellum, genauer zum Ncl. fastigii, zum medialen und intermediären zerebellaren Kortex ziehen [2; 7].

Vom Ncl. fastigii gelangen zerebellare Efferenzen über den Fasciculus fastigiovestibularis zu allen vier Ncl. vestibulares. Von den Vestibulariskernen ziehen die Tractus vestibulospinales medialis und lateralis fazilitierend zum alpha- und gamma-System der spinalen Muskulatur. Damit sind die Vestibulariskerne direkt und der Ncl. fastigii des Zerebellums indirekt für den Tonus der intrinsischen Wirbelsäulenmuskulatur verantwortlich. Weiter werden vom Ncl. interpositus und dem Ncl. fastigii des Zerebellums propriozeptive Afferenzen über den Ncl. ruber und der Formatio reticularis zum Thalamus und weiter zu den kortikalen Zentren des Großhirns geleitet. Jede chiropraktische Justierung, ob spinal oder peripher, wirkt damit unmittelbar auf das Rückenmark und Zerebellum und mittelbar auf die Vestibulariskerne, die Formatio reticularis, den Ncl. ruber, den Thalamus und schlussendlich auf den sensorischen Kortex [2; 3; 7; 10; 11; 17]. Des Weiteren können chiropraktische Justierungen über Ihren Einfluss auf das Zerebellum u.a. positive Effekte auf die Emotionen [1], die kognitiven Fähigkeiten wie Lernen, Sprache und Erinnerung [5] und auf das Immunsystem [13] haben.
Durch diese komplexen neurologischen Effekte chiropraktischer Justierungen erscheint die Beurteilung der Integrität einzelner neurologischer Bereiche sowie deren Interaktionen und die Beurteilung von Hemisphärendysbalancen durch eine entsprechende funktionsneurologische Untersuchung, bestehend aus einzelnen, klinisch relevanten neurologischen Tests, sinnvoll.
Ergänzend sei noch anzumerken, dass chiropraktische Justierungen nicht nur zentralnervöse, sondern auch periphere Effekte haben. Das periphere Nervensystem (PNS) stellt die unterste Ebene neurophysiologischer Veränderungen durch chiropraktische Justierungen dar. Hier können sich die Effekte auf die Entzündungsmediatoren, Neurotransmitter und die Nozizeptoren auswirken. In Studien konnten veränderte Zytokin-, Serotonin- und –Endorphinspiegel nach einer spinalen Manipulation nachgewiesen werden [4; 18].
Fazit
- Justierungen generieren neurophysiologische Afferenzen mit segmentalen und zentralen Effekten, wobei die Afferenzquantitäten je nach Körperregionen unterschiedlich sind.
- Subluxationen bzw. Fixationskomplexe sind i.d.R. durch segmentale, suprasegmentale und zentralnervöse Störungsmechanismen verursacht, wobei hier dem Kleinhirn (Zerebellum) eine besondere Rolle zukommt.
- Jede chiropraktische Justierung wirkt unmittelbar auf das Rückenmark und Kleinhirn und mittelbar u.a. auf die Vestibulariskerne, den Thalamus und schlussendlich den sensorischen Kortex.
Literatur
[1] Adamaszek, M. et al. (2016) Consensus Paper: Cerebellum and Emotion. In: The Cerebellum 16(2).
[2] Beck, R.W. (2011) Functional Neurology for Practitioners of Manual Medicine. Churchill Livingstone, Edinburgh.
[3] Carrick, F.R. (1997) Changes in brain function after manipulation of the cervical spine. In: J Manipulative PhysiolTher 20, S. 529-545.
[4] Degenhardt, B.; Darmani, N.; Johnson, J. et al. (2007) Role of osteopathic manipulative treatment in altering pain biomarkers: a pilot study. In: J Am Osteopath Assoc 107(9), S. 387-400.
[5] Desmond, J.E.; Fiez, J.A. (1998) Neuroimaging Studies of the Cerebellum: Language, Learning and Memory. In: Trends Cogn Sci 2(9), S. 355-362.
[6] Didehdar, D. et al. (2020) The Effect of Spinal Manipulation on Brain Neurometabolites in Chronic Nonspecific Low Back Pain Patients: A Randomized Clinical Trial. In: Ir J Med Sci 189(2), S. 543-550.
[7] Garten, H. (2016) Applied Kinesiology – Funktionelle Myodiagnostik in Osteopathie und Chirotherapie. Elsevier, München.
[8] Garten, H. (2011) Die Neurologie spinaler Manipulationen. In: Manuelle Medizin 49, S. 142-149.
[9] Haavik, H.; Murphy, B. (2012) The role of spinal manipulation in addressing disordered sensorimotor integration and altered motor control. In: J ElektromyogrKines 22(5), S. 768-776.
[10] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (2010) Altered Central Integration of Dual Somatosensory Input Following Cervical Spine Manipulation. In: J of Manipulative and Physiological Therapeutics 33(3), S. 178-188.
[11] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (2010) The effects of spinal manipulation on central integration of dual somatosensory input observed following motor training: A crossover study. In: J of Manipulative and Physiological Therapeutics 33(4), S. 261-272.
[12] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (2007) Transient modulation of intracortical inhibition following spinal manipulation. In: Chiropractic Journal of Australia 37, S. 106-116.
[13] Rizzi, A.; Saccia, M.; Benagiano, V. (2020) Is the Cerebellum Involved in the Nervous Control of the Immune System Function? In: Endocr Metab Immune Disord Drug Targets 20(4), S. 546-557.
[14] Robinault, L. et al. (2021) The Effects of Spinal Manipulation on Motor Unit Behavior. In: Brain Sciences 11 (1), https://www.mdpi.com/2076-3425/11/1/105.
[15] Schmitt, W.H. (2000) A neurological rational for injury recall technique. In: Proceedings of the Annual Meeting of I.C.A.K. Shawnee Mission, KS: ICAK-USA, Central Office, S. 137-139.
[16] Schmitt, W.H. (1990) Injury recall technique. In: Proceedings of I.C.A.K. Shawnee Mission, KS: ICAK-USA, Central Office, S. 208.
[17] Tamburella, F. et al. (2019) Cerebral Perfusion Changes After Osteopathic Manipulative Treatment: A Randomized Manual Placebo-Controlled Trial. In: Front Physiol 5(10), S. 403.
[18] Teodorczyk-Injeyan, J.A.; Injeyan, H.S.; Ruegg, R.(2006) Spinal manipulative therapy reduces inflammatory cytokines but not substance P production in normal subjects. In: J Manipulative Physiol Ther 29(1), S. 14-21.