Studien konnten zeigen, wovon Chiropraktiker ausgehen: während einer spinalen HVLA-Manipulation bewegen sich die Wirbel [vgl. u.a. 1; 4; 25]. Die Bewegung beschränkt sich jedoch nicht nur auf das anvisierte Segment oder die anvisierte Ebene, sondern erstreckt sich teils deutlich darüber hinaus [12; 13; 16; 39; 26; 27]. Die biomechanischen Effekte beziehen sich nicht allein auf die intervertebralen Wirbelbewegungen [9], sondern auch auf die Veränderung des intradiskalen Druckes [31], der spinalen Steifheit [11], der Separation der Facettengelenke [4; 5] und den spinalen Bewegungsumfang [9; 30; 37]. Diese Veränderungen scheinen jedoch nur vorübergehend zu bestehen [9; 11; 32] und die knöcherne Ausrichtung verändert sich offenbar nicht [10], auch wenn die anschließende manuelle Bewertung einen anderen Eindruck vermittelt [36]. Daher können wir davon ausgehen, dass diese vorübergehenden biomechanischen Veränderungen nicht für die Wirkung der spinalen Justierung verantwortlich sind [6], sondern neurophysiologische Reaktionen triggern [7; 18; 19; 24; 35].
HERZOG [25] weist in Bezug auf das Kavitationsgeräusch darauf hin, dass dieses nicht zwingend mit dem Erfolg einer Gelenkjustierung in Verbindung steht, da Manipulationen mit großer Kraft, großer Amplitude, jedoch geringer Geschwindigkeit dieses Kavitationsgeräusch ermöglichen, ohne jedoch Reaktionen der segmentalen Muskulatur und damit neuronale Effekte zu zeigen. Für diese scheint die hohe Geschwindigkeit des Impulses entscheidend, egal ob mit oder ohne Kavitationsgeräusch [25].
Das neurophysiologische Modell der Chiropraktik
Die biomechanische Betrachtungsweise, wie im vorherigen Blogbeitrag erläutert, wird damit der Komplexität der Wirkweise der chiropraktischen Justierung auf das Bewegungssystems nicht vollumfänglich gerecht und zunehmend durch neurophysiologische Betrachtungen ergänzt [2; 7; 10; 14; 17; 18; 19; 24; 29; 35]. Diese bringen den Vorteil eines holistischen, der übergeordneten Funktion des ZNS entsprechenden Ansatzes mit.
Noch vor den biomechanischen Effekten wirken sich spinale HVLA-Justierungen insbesondere auf die Propriozeptoren der autochthonen Wirbelsäulenmuskulatur und Rezeptoren der Wirbelsäulengelenke aus [25]. Dies generiert Afferenzen mit segmentalen und zentralen Effekten, die wiederum skelettale und viszerale Folgen mit Tonusänderungen der glatten und quergestreiften Muskulatur haben können [15; 19]. Dabei sind die Afferenzquantitäten bei spinalen Manipulationen je nach Region unterschiedlich: Aufgrund der hohen Rezeptorendichte der suboccipitalen Muskulatur ist bei Impulsmanipulationen im Kopfgelenkbereich mit dem größten afferenten Input und damit den größten zentralnervösen Effekten zu rechnen [3; 8; 14; 15; 20; 21; 22; 23; 28; 33; 38]. Dem schließt sich in der vertebralen Rezeptorquantität (genauer den Muskelspindeln) die restliche HWS, dann das Becken, anschließend der Lumbalbereich und abschließend mit der relativ geringsten Muskelspindelzelldichte der thorakale Bereich an [28]. Eine ähnlich hohe Rezeptordichte wie in den Kopfgelenken finden wir an Händen und Füßen [3; 6; 28], wobei hier durch den hohen Anteil an Exterozeptoren die sensorische Quantität im Vordergrund stehen dürfte. Den geringsten Anteil an Rezeptoren haben bei den Extremitäten die Oberschenkel und die Schultern [6; 28]. Daraus lässt sich folgern, dass Justierungen im oberen zervikalen bzw. suboccipitalen Bereich sowie an den Händen und Füßen die größten zentralnervösen Effekte haben.
Die (vertebrale) Subluxation
Aus diesen neurophysiologischen Erkenntnissen bietet es sich an, den bislang als zu mechanisch definierten Begriff der (vertebralen) Subluxation in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Erweiternd zu der biomechanischen, wörtlichen Definition des Begriffes schlagen ROBINAULT und Kollegen [34] eine erweiterte, zeitgemäße Definition vor. (Vertebrale) Subluxationen werden demnach als ein sich selbst aufrechterhaltendes, zentrales segmentales motorisches Steuerungsproblem angesehen, bei dem ein Gelenk sich nicht physiologisch bewegt, was zu anhaltenden neuronalen plastischen Veränderungen führt, die die Fähigkeit des Zentralnervensystems zur Selbstregulation, Selbstorganisation, Selbstanpassung, Selbstreparatur und Selbstheilung beeinträchtigen [34].
Fazit
- Biomechanische Betrachtungsweisen alleine werden der Komplexität der Wirkweise der chiropraktischen Justierung nicht gerecht und durch neurophysiologische Betrachtungen ergänzt.
- Justierungen generieren neurophysiologische Afferenzen mit segmentalen und zentralen Effekten, wobei die Afferenzquantitäten je nach Körperregionen unterschiedlich sind.
- Die Definition der (vertebralen) Subluxation wird aufgrund aktueller neurophysiologischer Kenntnisse um diese erweitert und nicht mehr rein biomechanisch gesehen:
(Vertebrale) Subluxationen sind ein sich selbst aufrechterhaltendes, zentrales segmentales motorisches Steuerungsproblem, bei dem ein Gelenk sich nicht physiologisch bewegt, was zu anhaltenden neuronalen plastischen Veränderungen führt, die die Fähigkeit des Zentralnervensystems zur Selbstregulation, Selbstorganisation, Selbstanpassung, Selbstreparatur und Selbstheilung beeinträchtigen [53].
Literatur
[1] Bialosky, J.; Bishop, M.; Price, D. et al. (2009) The mechanism of manual therapy in the treatment of musculoskeletal pain: a comprehensive model. In: Manual Therapy 14(5), S. 531-538.
[2] Carrick, F.R. (1997) Changes in brain function after manipulation of the cervical spine. In: J Manipulative PhysiolTher 20, S. 529-545.
[3] Cooper, S.; Daniel, P.M. (1963) Muscle spindle in man; their norptiology in the lumbricals and the deep muscles of the neck. In: Brain 86, S. 563-594.
[4] Cramer, G.D.; Ross, K.; Raju, P.K. et al. (2012) Quantification of cavitation and gapping of lumbar zygapophyseal joints during spinal manipulative therapy. In: J Manipulative Physiol Ther 35(8), S. 614-621.
[5] Cramer, G.D.; Gregerson, D.M.; Knudsen J.T. et al.(2002) The effects of side-posture positioning and spinal adjusting on the lumbar Z joints: a randomized controlled trial with sixty-four subjects. In: Spine 27(22), S. 2459-2466.
[6] Devanandan M.S.; Ghosh, S.; John KT (1983) A quantitative study of muscle spindles and tendon organs in some intrinsic muscles of the hand in the bonnet monkey (Macaca radiata). In: Anat Rec 207, S. 263-266.
[7] Didehdar, D. et al. (2020) The Effect of Spinal Manipulation on Brain Neurometabolites in Chronic Nonspecific Low Back Pain Patients: A Randomized Clinical Trial. In: Ir J Med Sci 189(2), S. 543-550.
[8] Eriksen, K. (2003) Upper Cervical Subluxation Complex: A Review of the Chiropractic and Medical Literature. Lippincott Williams & Wilkins, Baltimore.
[9] Fernández-de-las-Peñas, C.; Downey, C.; Miangolarra-Page, J.C. (2005) Immediate changes in radiographically determined lateral flexion range of motion following a single cervical HVLA manipulation in patients presenting with mechanical neck pain: A case series. In: Intern J of Osteopath Med 8, S. 139-145.
[10] Flynn, T.W.; Koppenhaver, S.; Cleland, J.; Hebert, J.(2012) Spinale Manipulation funktioniert – nur wie? In: Manuelle Therapie 16, S. 163-169.
[11] Fritz, J.; Koppenhaver, S.; Kawchuk, G. et al. (2011) Preliminary Investigation of the Mechanisms Underlying the Effects of Manipulation: Exploration of a Multivariate Model Including Spinal Stiffness, Multifidus Recruitment, and Clinical Findings. In: Spine 36(21), S. 1772-1781.
[12] Gal, J.; Herzog, W.; Kawchuk, G. et al. (1997a) Movements of vertebrae during manipulative thrusts to unembalmed human cadavers. In: Journal Manipulative Physiol Ther 20(1), S. 30-40.
[13] Gal, J.; Herzog, W.; Kawchuk, G. et al. (1997b)Measurements of vertebral translations using bone pins, surface markers and accelerometers. In: Clin Biomech12(5), S. 337-340.
[14] Garten, H. (2016) Applied Kinesiology – Funktionelle Myodiagnostik in Osteopathie und Chirotherapie. Elsevier, München.
[15] Garten, H. (2011) Die Neurologie spinaler Manipulationen. In: Manuelle Medizin 49, S. 142-149.
[16] Gatterman, M.I. (2005) Foundations of Chiropractic: Subluxation (2nd Edition). Elsevier Mosby, St. Louis.
[17] Haavik, H. (2014) The Reality Check. A quest to understand chiropractic from the inside out. HaavikResearch, Auckland.
[18] Haavik, H.; Murphy, B. (2012) The role of spinal manipulation in addressing disordered sensorimotor integration and altered motor control. In: J ElektromyogrKines 22(5), S. 768-776.
[19] Haavik Taylor, H.; Holt, K.; Murphy, B. (20101) Exploring the neuromodulatory effects of the vertebral subluxation and chiropractic care. In: Chiropractic Journal of Australia 40(1), S. 37-44.
[20] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (20102) Altered Central Integration of Dual Somatosensory Input Following Cervical Spine Manipulation. In: J of Manipulative and Physiological Therapeutics 33(3), S. 178-188.
[21] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (20103) The effects of spinal manipulation on central integration of dual somatosensory input observed following motor training: A crossover study. In: J of Manipulative and Physiological Therapeutics 33(4), S. 261-272.
[22] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (2008) Altered sensorimotor integration with cervical spine manipulation. In: J of Manipulative and Physiological Therapeutics 31(2), S. 115-126.
[23] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (20071) Cervical spine manipulation alters sensorimotor integration: A somatosensory evoked potential study. In: Clin Neurophysiol118(2), S. 391-402.
[24] Haavik Taylor, H.; Murphy, B. (20072) Transient modulation of intracortical inhibition following spinal manipulation. In: Chiropractic Journal of Australia 37, S. 106-116.
[25] Herzog, W. (2010) The biomechanics of spinal manipulation. In: J of Bodywork and Movement Therapies14(3), S. 280-286.
[26] Ianuzzi, A.; Khalsa P.S. (2005) High loading rate during spinal manipulation produces unique facet joint capsulastrain patterns compared with axial rotations. In: J Manipulative Physiol Ther 28(9), S. 673-687.
[27] Kulig, K.; Landel, R.; Powers, C. (2004) Assessment of lumbar spine kinematics using dynamic MRI: a proposed mechanism of sagittal plane motion induced by manual posterior-to-anterior mobilization. In: J Orthop Sports PhysTher 34(2), S. 57-64.
[28] Kulkarni, V.; Chandy, M.J.; Babu, K.S. (2001) Quantitative study of muscle spindles in suboccipital muscles of human foetuses. In: Neurology India 49(4), S. 355-359.
[29] Laslett, J. (2012) Differenzierungs-/Provokationstests und Behandlung für das SIG. In: Manuelle Therapie 16, S. 9-17.
[30] Martínez-Segura, R.; Fernández-de-las-Peñas, C.; Ruiz-Sáez, M. et al (2006) Immediate effects on neck pain and active range of motion after a single cervical high-velocity low-amplitude manipulation in subjects presenting with mechanical neck pain: a randomized controlled trial. In: Journal of manipulative and physiological therapeutics 29(7), S. 511-517.
[31] Maigne, J.Y.; Guillon, F (2000) Highlighting of intervertebral movements and variations of intradiskalpressure during lumbar spine manipulation: a feasibility study. In: J Manipulative Physiol Ther 23, S. 531-535.
[32] Nilsson, N.; Christensen, H.W.; Hartvigsen, J. (1996) Lasting changes in passive range motion after spinal manipulation: a randomized, blind controlled trial. In: J Manipulative and Physiological Therapeutics 19(3), S. 165-168.
[33] Richmond, F.J.R.; Abrahams, V.C. (1979) What are the proprioceptors of the neck? In: Prog Brain Res 50, S. 245-254.
[34] Robinault, L. et al. (2021) The Effects of Spinal Manipulation on Motor Unit Behavior. In: Brain Sciences 11 (1), https://www.mdpi.com/2076-3425/11/1/105.
[35] Tamburella, F. et al. (2019) Cerebral Perfusion Changes After Osteopathic Manipulative Treatment: A Randomized Manual Placebo-Controlled Trial. In: Front Physiol 5(10), S. 403.
[36] Tullberg, T.; Blomberg, S.; Branth, B.; Johnsson, R.(1998) Manipulation does not alter the position of the sacroiliac joint. A roentgen stereophotogrammetric analysis.In: Spine 23(10), S. 1124-1129.
[37] Whittingham, W.; Nilsson, N. (2001) Active range of motion in the cervical spine increases after spinal manpulation (toggle recoil). In: J Manipulative Physiol Ther24(9), S. 552-555.
[38] Wolff, H.-D. (1996) Neurophysiologische Aspekte des Bewegungssystems. Springer, Berlin Heidelberg.