Die motorische Steuerung und Regelung der Augen (Okulomotorik) als auch die motorische Steuerung und Regelung der Wirbelsäule (Vertebralmotorik) sind funktionell eng miteinander verschaltet. Dieses Zusammenspiel beider motorischer Systeme wird als Visuomotorik bezeichnet (Friedrich & Seidel 2017). Zusammen mit dem vestibulären System sind diese maßgeblich für die Aufrechterhaltung des posturalen Systems verantwortlich.

Die visuellen Informationen und damit die Blickziele mit der einhergehenden Verlagerung der Blickachse spielen eine entscheidende Rolle bei der Körperorientierung im Raum. Der Blick ist die visuelle Achse im Raum, zusammengesetzt aus der Position des Auges relativ zur Umgebung, die Position des Auges relativ zum Kopf und die Position des Kopfes relativ zur Umgebung und damit auch relativ zum restlichen Körper (vgl. Cullen & Guitton 1997). Die periphere Retina ist für die dynamische Haltungskontrolle wichtig (Berthoz 1974), weil dort das visuelle Raumorientierungssystem seinen Ausgangspunkt hat (Levin & Arnold 2005). Hinzu kommt die Propriozeption der äußeren Augenmuskeln. So konnten Roll, Vedel & Roll 1989 zeigen, dass durch Vibrationsstimulation der äußeren Augenmuskeln (10 bis 80 Hz) propriozeptive Afferenzen ausgelöst werden, die eine Bewegungsillusion der Augen mit dem Eindruck einer visuellen Zielobjektverschiebung und entsprechende posturale Effekte hervorrufen.

Kopplung von vertebraler Motorik und Okulomotorik

Propriozeptive, vestibuläre und visuelle Informationen werden auf Ebene des Hirnstammes integriert (Friedrich & Seidel 2017; Garten 2016) (vgl. Abb. 1). Über den Lemniskus medialis („Körperfühlbahn“, verläuft im Hirnstamm von den Hinterstrangkernen zum Thalamus), den Fasziculus longitudinalis medialis (Fasersystem vom Mesencephalon zum thorakalen Rückenmark) und den Tractus vestibulospinalis wird eine Verbindung von den Vestibulariskernen und den Kernen der externen Augenmuskeln einerseits und der Propriozeption aus der autochthonen Wirbelsäulenmuskulatur andererseits hergestellt.

Abb. 1: Kopplung von vertebraler Motorik und Okulomotorik (aus: GARTEN 2016).

So sind die lateralen Augenmuskeln (Mm. rectus lateralis) und die lateralen autochthonen Muskeln der Wirbelsäule (Mm. intertransversarii) gleichsinnig innerviert und ebenso die medialen Augenmuskeln und die medialen autochthonen Muskeln (Mm. rotatores und multifidi). So bilden die lateralen und die medialen autochthonen Muskelsysteme der Wirbelsäule jeweils ein gleichsinniges Innervationsmuster, wenn die Bewegungsrichtung von den Augen getriggert wird. Die Augenmotorik stellt somit eine Möglichkeit dar, die unwillkürlich innervierbare Wirbelsäulenmuskulatur indirekt willkürlich über die Augenbewegungen zu beeinflussen (vgl. Corneil et al. 2004). Manualtherapeutisch wird dies z.B. bei postisometrischen Relaxationstechniken oder vertebralen Manipulationen ausgenutzt.

Wird die Bewegung von einer Kopfrotation getriggert, kehren sich die Verhältnisse um: Eine Rotation des Kopfes nach rechts durch Kontraktion der medialen autochthonen HWS-Muskeln (Mm. rotatores) links und der lateralen autochthonen HWS-Muskeln (Mm. intertransversarii) rechts (gekoppelte Mechanik der Halswirbelsäule) ist daher reflektorisch mit einer Kontraktion des M. rectus medialis des rechten Auges und des M. rectus lateralis des linken Auges verbunden (die Augen drehen gegensätzlich der Kopfrotation).  Wir sprechen hier von dem zervikookulären Reflex (COR, Garten 2016) als einen Hirnstammreflex. Dieser trägt neben dem dominierenden und schnell leitenden vestibulookulären Reflex (VOR) dazu bei, dass die Augen einen Fixpunkt bei einer sich verändernder Kopfposition halten können (Garten 2016; Klinke et al. 2009).

Willkürliches Mitführen der Augen in die Richtung der Kopfdrehung (M. rectus lateralis rechts und M. rectus medialis links bei Kopfrotation rechts) wird diesen Reflexmechanismus, wie bereits oben beschrieben, maskieren (Garten 2016).

Konsequenzen motorischer Funktionsstörungen

Eine Tonusstörung der extraokulären Muskeln kann zu einem fehlerhaften Körperhaltungsprogramm mit z.B. immer wiederkehrenden Funktionsstörungen der Wirbelsäule führen (Garten 2016). Diese Funktionsstörung der extraokulären Muskeln kann wiederum durch Aktivitätsstörungen des ZNS infolge von Fehlafferenzierungen aus den Propriozeptoren begründet sein, z.B. bei zervikalen Dysfunktionen oder Dysfunktionen in anderen Bereichen des Bewegungssystems wie dem Iliosakralgelenk (und damit selbst funktionell sein). Als Ursprünge von Fehlafferenzierungen spielen die Regionen mit der höchsten Propriozeptorendichte (stomatognathes System, HWS, Lumbo-sakro-iliakalregion und Füße) die wichtigste Rolle (vgl. Friedrich & Seidel 2017). Okulomotorische Störungen können sowohl als Ursache wie als Folge von Abweichungen der Haltungsreaktion in Frage kommen. So kann es bei Dysbalance der autochthonen Muskulatur zur Dysbalance der Augenmuskeln kommen. Konvergenz- und Fusionsschwächen (d.h. nicht zur Deckung bringen der Bilder beider Augen) können die Folge sein. So zeigen sich häufig Besserungen von Konvergenz- und Fusionsschwächen nach der Beseitigung primärer oder sekundärer Funktionsstörungen der Kopfgelenkregion (z.B. als Folge von Malokklusion oder aufsteigenden Störungen des Achsenorgans, Garten 2016).

Nur in Fällen von manifestem Schielen liegt der Dysbalance der extraokulären Muskeln eine eindeutige anatomische Ursache zugrunde.

Folgen einer vertebralen Hypoafferenzierung für das Sichtfeld

50% der visuellen Afferenz eines Auges und alle propriozeptiven Afferenzen kreuzen zur kontralateralen Seite des Thalamus. Bei Hypoafferenzierung kann es durch die Inhibition des kontralateralen Thalamus zu einer verminderten kortikalen Aktivität kommen. Dies führt als Teilaspekt der thalamischen Funktion (Corpus geniculatum laterale) dazu, dass sich der physiologische blinde Fleck auf der Seite der Hypoafferenzierung vergrößert (vgl. Carrick 1997). Der physiologische blinde Fleck ist somit ein subjektiv erfassbarer Parameter des Funktionszustandes des Thalamus.

Abb. 2: Der blinde Fleck ist auf der Seite der Hypoafferenzierung, also auf der Gegenseite der kortikalen Schwäche, vergrößert. Im unteren Abschnitt des blinden Flecks spiegelt sich die Funktion des Lobes parietalis, im oberen die Funktion des Lobes temporales (aus: GARTEN 2016).

Bei Verbesserung der neurologischen Aktivität, in diesem Fall einer Besserung der Propriozeption, wird der blinde Fleck kleiner (Carrick 1996, 1997). Für die Größe des blinden Flecks gibt es keinen verbindlichen Normwert, die Seitendifferenz ist das wichtigste Kriterium. Nach Verbesserung der Afferenzierung wird sich der vergrößerte blinde Fleck dem kontralateralen angleichen. Wenn der blinde Fleck links größer ist, müssen die Propriozeption bzw. allgemein die Afferenzen links verbessert werden und umgekehrt.

Zusammenfassung: Die visuellen Informationen spielen eine entscheidende Rolle bei der Körperorientierung im Raum. Die Okulo- als auch die Vertebralmotorik sind eng miteinander verschaltet (Visuomotorik) und bedingen sich gegenseitig. Störungen in einem dieser motorischen Systeme kann sich im Sinne einer funktionellen Störung auf das andere System auswirken. Eine vertebrale Hypoafferenzierung kann beispielsweise den ipsilateralen, physiologischen blinden Fleck vergrößern.

Literatur

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