Bei Beschleunigungsverletzungen der HWS wird zwischen dem Contact-Trauma und dem Non-Contact-Trauma differenziert.
Beim Contact-Trauma kommt es zu einer direkten Krafteinwirkung auf den Kopf, bspw. nach Verkehrs-, Sport-, Arbeits- oder Haushaltsunfällen.
Beim Non-Contact-Trauma (kontaktloses Beschleunigungstrauma) stellen ultraschnelle Beschleunigungen von Kopf und HWS die ursächliche Gewalteinwirkung dar.
Das kontaktlose Beschleunigungstrauma entsteht häufig durch Auffahrunfälle im Straßenverkehr, die den Betroffenen unvorbereitet treffen. Betroffen ist in den meisten Fällen das Unfallopfer, auf dessen zumeist stehenden Wagen der Unfallverursacher aufgefahren ist. Die Beschleunigungsgeschwindigkeit ist in den meisten Fällen gering (<25km/h).
Das typische kontaktlose Beschleunigungstrauma ist keine strukturelle Verletzung der HWS. Der radiologische Befund ist negativ. Nur bei sehr hohen Beschleunigungsgeschwindigkeiten (z.B. Stauende auf der Autobahn) kann es auch zu strukturellen Verletzungen, insbesondere der oberen HWS, kommen.
Beim Beschleunigungstrauma handelt es sich um eine Erschütterung der kortikalen und subkortikalen Strukturen, so wie um Gewebeüberlastungen in der HWS (diese werden nozizeptiv). Die posturale Stabilisierung der HWS ist in dem unvorbereiteten, sitzenden Zustand nicht ausreichend gegeben. Eine antizipatorisch, chronologisch und postural richtige Aktivierung der HWS stabilisierenden Muskulatur findet nicht statt. Stattdessen aktiviert der Betroffene nach Beginn des ultraschnellen Einwirkens der Beschleunigungskräfte auf den Körper reflektorisch eine muskuläre Schutzreaktion im feed back. Dies führt zu einer chronologisch falschen Aktivierung der Muskulatur. Die überwiegend tonischen Muskeln des Kopf-, HWS und Schultergürtelbereiches werden überschießend aktiviert, was in den erschütterten und damit traumatisierten subkortikalen Strukturen eine Fehlkybernetik der Motorik (Somatomotorik, Okulomotorik) und des Vestibulums hervorrufen kann. Der nozizeptive Input (zunächst subkortikal) trägt seinen Teil zur Ausbildung einer muskulären Dysbalance bei.
Der Betroffene nimmt zunächst keine Schmerzen wahr. Die Funktionspathologie der Motorik wird dem betroffenen erst nach einer längeren Zeit des Liegens (>2Std., z.B. am nächsten Morgen) durch eine deutliche, schmerzhafte Bewegungseinschränkung der HWS bewusst. Die posturalen Programme werden nach der Vertikalisierung aus der horizontalen Lage im Sinne einer übermäßigen Fazilitierung der tonischen Muskeln falsch aktiviert.
Diese fehlerhafte Aktivierung in der Reihenfolge der Muskelansteuerung rührt daher, dass die Basalganglien im Mesencephalon und das Cerebellum das falsche, traumatisch bedingte Bewegungsprogramm fazilitieren, da antizipatorisch ständig ein Schleudertrauma erwartet wird. Das ZNS versucht so den Schutz vor einer erneuten kranio-zervikalen Traumatisierung.
Die physiologische und fehlerhafte Aktivierung der armhebenden Muskulatur kann man in Form einer Datei wie folgt darstellen:
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Therapeutische Konsequenz:
Eine Ruhigstellung der HWS bei einem fehlenden strukturellen Befund ist nicht indiziert, wäre sogar ein therapeutischer Kunstfehler!
Das therapeutische Ziel besteht in einer Normalisierung der motorischen Kybernetik der HWS und aller mit ihr assoziierten Strukturen, einschließlich der Okulomotorik. Die Reduzierung der funktionellen Nozizeption des Bewegungssystems durch die Stabilisierung der Motorik wird somit ermöglicht.
Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach dem in einem früheren Beitrag bereits vorgestellten therapeutischen Konzept der drei Therapiestufen. Das chronologische Einhalten der Stufen ist eine wesentliche Voraussetzung für den Therapieerfolg.
Therapiestufe 1 | Therapiestufe 2 | Therapiestufe 3 | |
Steuerungsebene | spinal | supraspinal | supraspinal |
Ziel | Afferenzoptimierung | Haltungsoptimierung | posturale Stabilisation |
Therapieinhalt | Beseitigung überschießender reziproker Hemmung | Enthemmung der supraspinalen Steuerung | Aktivierung posturaler Reaktionen |
Therapiemethode | autogene und reziproke Hemmung und Bahnung | Reziproke Hemmung und Bahnung in Bewegungsketten | Provokation der funktionellen Stabilisierung |
Therapieverfahren | heiße Rolle, Chiropraktik, Visualtraining, Infiltrationstherapie, Triggerpunkt-techniken, TENS, Tapingtechniken,… | Übungen mit elastischen Übungsbändern und an Zugapparaten, PNF-Muster,… | Posturale Therapie mit dosiert instabilen/labilen Geräten |
Neben einer Ruhigstellung der HWS bei fehlenden strukturellen Schädigungen wäre auch das Muskeltraining an geführten Trainingsgeräten kontraindiziert, da für die wieder herzustellende Koordinationsfähigkeit eher schädlich als nützlich. Durch die überwiegend eindimensionale Bewegungsführung der Geräte kann es zu einer sogenannten Surround-Inhibition der zentralmotorischen Steuerung, insbesondere des Zerebellum als Zentralorgan der Bewegungsplanung kommen. Die Provokation der funktionellen Stabilisation der HWS verlangt ein koordinatives Training, das möglichst alle zentralen Instanzen der motorischen Programme stimuliert. Als ideales Trainingsgerät für die Wiederherstellung einer posturalen Koordination der HWS nach einem kraniozervikalen Beschleunigungstrauma hat sich der Schwingstab mit stufenloser Frequenzwahl (Propriomed® der Fa. Haider Bioswing) auf der Basis einer afferenzoptimierten zentralmotorischen Steuerung erwiesen.
Zusammenfassung: Den meisten kontaktlosen HWS-Beschleunigungstraumata liegt keine strukturelle, sondern eine funktionelle Pathologie zugrunde. Durch die schnellen Beschleunigungen des Kopfes kommt es in Folge eines kybernetischen Schutzmechanismus zu einer falschen Aktivierung posturaler Programme aus dem zentralen Nervensystem. Das therapeutische Ziel besteht in einer Normalisierung der motorischen Kybernetik der HWS und aller mit ihr assoziierten Strukturen mittels eines dreistufigen, koordinativ fokussierten Therapieprogrammes.