Funktionsneurologische Untersuchungen dienen in der Chiropraktik dem Ziel, den Integrationszustand des zentralen Nervensystems und damit zentralnervöse Dysbalancen sowie die individuelle Reiztoleranzschwelle des Patienten zu erfassen [2]. Dies dient der Vermeidung negativer neurologischer Wirkungen durch chiropraktische Justierungen [2]. Des Weiteren sollte die Lateralität der chiropraktischen Justierung der Lateralität der zentralen Störung angepasst sein.
Als Grundregel für chiropraktische Justierungen gilt, dass der Impuls stets auf der Gegenseite der Großhirnhemisphärenschwäche erfolgen sollte, da sämtliche sensorische Afferenzen kreuzen [vgl. 1, 2].
Da die Justierung der oberen HWS inkl. der Kopfgelenke den größten afferenten Input generiert, ist die sensomotorische Integrität vor einer chiropraktischen Justierung der oberen HWS und der Kopfgelenke besonders sorgfältig zu prüfen, da es sonst zu einer Überschreitung der metabolischen Kapazität der stimulierten Areale (Zerebellum, Hirnstamm, Zerebrum) mit entsprechenden Symptomen (z.B. Pulsbeschleunigung, Tränenfluss, Speichelfluss, kalter Schweiß, Übelkeit, Kopfschmerzen, vasovagale Reaktionen) kommen kann [2].
Nach einer chiropraktischen Justierung sollte es nicht zu einer sog. Erstverschlimmerung mit solchen Symptomen kommen. Tritt eine solche Erstverschlimmerung ein, ist dies ein Hinweis auf eine Überschreitung der metabolischen Kapazität neuronaler Netzwerke durch einen zu hohen afferenten Input und als ein chiropraktischer Kunstfehler zu werten.
Funktionsneurologisches Basistestprogramm
Als funktionsneurologisches Basistestprogramm hat sich eine Abfolge neurologischer Tests bewährt, welche bei der chiropraktischen Erstuntersuchung rasch durchführbar sind und einen Eindruck der funktionellen Integrität einzelner Hirnregionen in die sensomotorische Integration gewähren.
Zum funktionsneurologischen Basistestprogramm sollten mindestens Tests zur Beurteilung
- der Propriozeption (z.B. ROMBERG-Versuch),
- der Exterozeption (z.B. Stimmgabeltest),
- des medialen Zerebellums (z.B. Spine-Test),
- des intermediären Zerebellum (z.B. Hacke-Schienbein-Versuch),
- des lateralen Zerebellum (z.B. Finger-Nase-Versuch),
- des Pons (HALMAGYI-Kopfimpulstest),
- des Vestibulums (z.B. Einbeinstand),
- des Mesencephalons (z.B. Konvergenztest),
- der Formatio reticularis (z.B. AV-Ratio am Augenhintergrund),
- des Thalamus (z.B. Beurteilung des blinden Flecks) und
- des Kortex (z.B. Muskeleigenreflexe) gehören [vgl. 1; 2].
Die hier genannten Tests sind lediglich eine Auswahl funktionsneurologischer Tests und insbesondere bei unklaren Befunden durch weitere Tests zu ergänzen.
Anhand bestimmter Befunde (z.B. Muskeleigenreflexe, AV-Ratio am Augenhintergrund, Beurteilung des blinden Flecks, Konvergenztest) lassen sich neben den direkt getesteten Hirnarealen Aussagen zu einer möglichen Großhirnhemisphärendysbalance (Hemisphericity) machen.
Eine Großhirnhemisphärenschwäche (mit Hemmung der ipsilateralen pontobulbären Formation reticularis) besteht i.d.R. auf der Seite der positiven Testbefunde, also z.B. auf der Seite der abgeschwächten Muskeleigenreflexe oder auf der Seite der Konvergenzschwäche [1, 2]. Die Ausnahme bildet die Befundung des blinden Flecks. Ein vergrößerter blinder Fleck zeigt sich auf der Seite der propriozeptiven Hypoafferenzierung und damit auf der Gegenseite der Großhirnhemisphärenschwäche [1].

Erst mehrere positive unilateraler Befunde bestimmter Tests können einen Hinweis auf eine Großhirnhemisphärenschwäche geben. Der chiropraktische Impuls im Rahmen der Justierung sollte dann stets auf der Gegenseite der Großhirnhemisphärenschwäche, also auf der Gegenseite der positive Testbefunde, jedoch auf der gleichen Seite des vergrößerten blinden Flecks gesetzt werden. So wird die schwache Hemisphäre gezielt stimuliert und einer Hemisphärendysbalance entgegengewirkt. Eine chiropraktische Justierung auf der Seite einer positiv befundenen Hemisphärenschwäche ist als relative Kontraindikation zu sehen und zu unterlassen.
Fazit
- Funktionsneurologische Untersuchungen dienen dem Ziel, den Integrationszustand des zentralen Nervensystems und die individuelle Reiztoleranzschwelle des Patienten zur Vermeidung negativer neurologischer Wirkungen durch chiropraktische Justierungen zu erfassen.
- Als Basisprogramm hat sich eine Abfolge neurologischer Tests bewährt, welche bei der chiropraktischen Erstuntersuchung rasch durchführbar sind.
- Ein funktionsneurologisches Untersuchungsprogramm ist in der Lage, Hemisphärenschwächen bzw. Hemisphärendysfunktionen (Hemisphericity) zu identifizieren und deren Lateralität für eine gezielte Justierung einer Körperhälfte zu bestimmen.
Literatur
[1] Garten, H. (2016) Applied Kinesiology – Funktionelle Myodiagnostik in Osteopathie und Chirotherapie. Elsevier, München.
[2] Garten, H. (2011) Die Neurologie spinaler Manipulationen. In: Manuelle Medizin 49, S. 142-149.