Seit dem Beginn der Chiropraktik durch dessen Begründer Daniel David Palmer 1896 [22] dominiert die biomechanische Sichtweise auf die Ursachen von Schmerzen des Bewegungsapparates und der Wirkungsweise der Chiropraktik. Die damalige Vorstellung der Pathogenese von Rückenschmerzen ist ein subluxierter Wirbel, durch dessen Fehlstellung die Strukturen im Foramen intervertebrale, insbesondere der Spinalnerv, eingeengt werden. D.D. Palmer erkannte und beschrieb seinerzeit bereits die Folgen der scheinbaren Subluxation, insbesondere deren Auswirkungen auf das periphere Nervensystem und den veränderten Muskeltonus [22].

Bis heute findet der mechanisch geprägte und sehr umstrittene Terminus der Subluxation in der Chiropraktik breite Verwendung [vgl. u.a. 7; 10; 12; 19; 23] und ist nicht zuletzt durch die Anerkennung der WHO (ICD10-CM-Code M99.1- „Subluxation der Wirbelsäule“) als etabliert anzusehen. Auf eine zeitgemäße, moderne Definition des Begriffes der Subluxation wird in einem hier folgenden Blogbeitrag im Rahmen der neurophysiologischen Betrachtungen eingegangen.
Das biomechanische Modell der Chiropraktik
Chiropraktische Justierungen werden traditionell aufgrund eines biomechanischen Modells ausgewählt [15]. Dabei gilt es eine scheinbar biomechanische Einschränkung zu identifizieren und die Behandlung auf diese in eine spezifische Richtung mit einem HVLA-Impuls auszurichten [10; 14]. Das Ziel dieses Ansatzes ist es, die gefundene biomechanische Einschränkung zu beheben und die physiologisch biomechanischen Verhältnisse sowie die physiologischen Raumverhältnisse in und um das Gelenk wieder herzustellen[10; 14].
Trotz der zunehmenden Evidenz für die Wirksamkeit spinaler Impulsmanipulationen können die genauen Indikationen für die Auswahl und die Anwendung geeigneter Techniken bislang nicht benannt werden [5; 8]. Es zeigt sich auf Basis der aktuellen Evidenzlage, dass die Auswahl einer bestimmten manipulativen Technik für den Therapieerfolg nicht so entscheidend ist, wie lange angenommen [3; 4]. CHIRADEJNANT et al. [4], CLELAND et al. [5] und HAAS [11] kommen sogar jeweils und unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die Wahl der Impulstechnik irrelevant ist.
Auch die Fokussierung mit einer Technik auf ein Segment in dem Sinne, dass ein Segment isoliert mit einem Impuls manipuliert wird, scheint nicht möglich und erstreckt sich auch immer über andere, teils nicht einmal benachbarte Segmente [2; 9; 14; 16; 18; 20]. HASELMEYER [13] weist darauf hin, dass bei der Justierung lediglich die wichtigste primäre Richtung der Subluxation berücksichtigt werden sollte, Nebenparameter (z.B. scheinbare Kippungen oder Superioritäten und Inferioritäten eines Wirbels) können vernachlässigt werden.
ROSS und Kollegen [20] zeigen in einer Studie, das Kavitationen (welche mit einem Knackgeräusch einhergehen können) bei jeder einzelnen Impulsmanipulation im Brust- und Lendenbereich von zahlreichen Segmenten ausgeht. Damit gibt es keine signifikante Korrelation zwischen dem anvisierten Gelenk und der Lokalisation der Kavitation. BEFFA und MATHEWS [2] weisen nach, dass bei Impulsmanipulationen der Lenden-Becken-Region Kavitationen in dieser ganzen Region auftreten können, auch völlig unabhängig der gewählten Technik.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den klinischen Untersuchungstechniken, bei denen ebenso der biomechanische Ansatz zu hinterfragen ist. Studien zeigen, dass klinische Untersuchungstechniken, insbesondere um Hypomobilitäten aufzufinden, nicht über die erforderliche Validität verfügen, diese auch anzuwenden [1; 17]. Dies betrifft insbesondere das Sacro-Iliacal-Gelenk (SIG) [17]. Demgegenüber ist die Validität bei der Identifizierung eines schmerzhaften Segments nachweislich um einiges größer als die Identifizierung einer segmentalen Hypomobilität [21]. Auch für die Impulsmanipulation gilt, dass die Behandlung symptomatischer Segmente Schmerzen stärker reduziert als die Behandlung asymptomatischer, scheinbar hypomobiler Segmente [4; 6].
Fazit
- Das biomechanische Modell zeigt sich als unzureichend in der Untersuchung und in der Begründung, warum und wie Impulsmanipulationen wirken.
- LASLETT [17] kommt in seinen Studien zu dem Schluss, dass biomechanische Konzepte der manipulativen Techniken bei Rückenschmerzpatienten aufgegeben werden müssen, da diese durch Fakten und Evidenz widerlegt sind.
Literatur
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[4] Chiradejnant, A.; Maher, C.; Latimer J. et al. (2003) Efficacy of “therapist-selected” versus “randomly selected” mobilization techniques for the treatment of low back pain: a randomized controlled trial. In: Australian Journal of Physiotherapy 49(4), S. 233-241.
[5] Cleland, J.; Fritz, J.M.; Kulig, K. et al. (2009) Comparison of the effectiveness of three manual physical therapy techniques in a subgroup with low back pain who satisfy a clinical prediction rule: a randomized clinical trial. In: Spine 34(25), S. 2720-2729.
[6] Didehdar, D. et al. (2020) The Effect of Spinal Manipulation on Brain Neurometabolites in Chronic Nonspecific Low Back Pain Patients: A Randomized Clinical Trial. In: Ir J Med Sci 189(2), S. 543-550.
[7] Eriksen, K. (2003) Upper Cervical Subluxation Complex: A Review of the Chiropractic and Medical Literature. Lippincott Williams & Wilkins, Baltimore.
[8] Flynn, T.W.; Koppenhaver, S.; Cleland, J.; Hebert, J.(2012) Spinale Manipulation funktioniert – nur wie? In: Manuelle Therapie 16, S. 163-169.
[9] Flynn, T.W.; Fritz J.M.; Whitman, J. et al. (2003) A clinical prediction rule for classifying patients with low back pain who demonstrate short-term improvement with spinal manipulation. In: Spine 27, S. 2835-2843.
[10] Gatterman, M.I. (2005) Foundations of Chiropractic: Subluxation (2nd Edition). Elsevier Mosby, St. Louis.
[11] Haas, M. (2003) Efficacy of Cervical Endplay Assessment as an Indicator for Spinal Manipulation. In: Spine 28(11), S. 1091-1096.
[12] Haavik, H. (2014) The Reality Check. A quest to understand chiropractic from the inside out. HaavikResearch, Auckland.
[13] Haselmeyer, K. (2012) Fortgeschrittene Technik der modernen Chiropraktik. Mauritz & Grewe, Göttingen.
[14] Herzog, W. (2010) The biomechanics of spinal manipulation. In: J of Bodywork and Movement Therapies14(3), S. 280-286.
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[16] Kulig, K.; Landel, R.; Powers, C. (2004) Assessment of lumbar spine kinematics using dynamic MRI: a proposed mechanism of sagittal plane motion induced by manual posterior-to-anterior mobilization. In: J Orthop Sports PhysTher 34(2), S. 57-64.
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[18] Lee, R.Y.W.; McGregor, A.H.; Bull, A.M.J. et al. (2005) Dynamic response of the cervical spine to posteroanterior mobilisation. In: Clinical Biomechanics 20(2), S. 228-231.
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[20] Ross, J.; Bereznick, D.; McGill, S. (2004) Determining cavitation location during lumbar and thoracic spinal manipulation: is spinal manipulation accurate and specific?In: Spine 29 (13), S. 1452-1457.
[21] Schneider, M.; Erhard, R.; Brach, J. et al. (2008) Spinal palpation for lumbar segmental mobility and pain provocation: an interexaminer reliability study. In: Journal of Manipulative & Physiological Therapeutics 31(6), S. 465-473.
[22] Senzon, S. (2019) D.D. Palmer A Biography of the First Chiropractor. The Institute Chiropractic, Asheville, N.C.
[23] Simon, H. (2019) Lehrbuch Chiropraktik. Thieme, Stuttgart.