Jede Bewegung setzt voraus, dass sie gegen die Schwerkraft zielorientiert gesichert ist (funktionelle Stabilisierung). Bei Bewegungen des Armes oder kleinmotorischen Aktivitäten der Hände und Finger (Mobilpunkte) müssen diese durch die zentrale Kybernetik des Schultergürtel-Rumpf-Bereiches stabilisiert werden (Fixpunkte). Die funktionelle Stabilisierung des Schulterblattes (Scapula) als Artikulationspartner des Humerus spielt dabei die entscheidende Rolle.
Die Scapula wird als frei beweglicher Knochen muskulär gesichert und geführt. Dies wird von überwiegend tonisch als auch überwiegend phasisch innervierten Muskeln ermöglicht. Diese können das Terrain muskulärer Dysbalancen im Scapula-Schultergürtelbereich bei einer kybernetischen Fehlsteuerung der Motorik bilden.
Exemplarisch sollte in diesem Zusammenhang die antagonistische Funktion des überwiegend tonischen M. levator scapulae und des überwiegend phasischen M. serratus anterior hervorgehoben werden. Bei Haltungsschwächen als auch Haltungsschäden im Schultergürtel-Thorax-Bereich finden wir klinisch häufig den M. levator scapulae hyperfazilitiert und den M. serratus anterior inhibiert. Hieraus resultiert eine Veränderung der Scapulastellung am Thorax: Diese dreht sich, so dass es zu einem Absinken des Acromion kommt, was die Fornix humeri verkleinert und ein funktionelles Impingementsyndrom hervorrufen kann (u.a. mit einer Komprimierung der avaskulären Zone des M. supraspinatus, welche dann nozizeptiv ist). Dieses funktionelle Impingementsyndrom kann sich durch die Kompression der subacromialen Strukturen zu einem strukturellen Impingementsyndrom entwickeln.
Die Fehlstellung der Scapula zeigt sich klinisch als Scapula alata functionales mit einem schräg nach kaudo-medial verlaufendem Margo medialis scapulae. Die Mm. rhomboidei werden ebenfalls inhibiert. Ihr relativ geringer Anteil überwiegend tonisch innervierter Fasern hyperfazilitiert, um noch die Scapula am Rumpf zu fixieren. Die Überlastung dieser überwiegend tonisch innervierten Fasern führt nach klinischen Erfahrungen häufig zu der Entstehung von schmerzhaften Triggerpunkten, welche der Patient als typischer interscapularer Schmerz, v.a. in Ruhe, angibt. Eine rein lokale Behandlung dieser Triggerpunkte wird keinen langfristigen therapeutischen Erfolg erzielen, wird rein symptomatisch sein und kann sogar durch die weitere Inhibierung der Mm. rhomboidei das Beschwerdebild verschlimmern und damit als therapeutischer Kunstfehler angesehen werden.
Das unmittelbare therapeutische Vorgehen bei einem funktionellen Impingementsyndrom zielt zunächst auf die frei bewegliche BWS samt CTÜ und HWS einschließlich der Kopfgelenke mittels entsprechender chiropraktischer Techniken, dann auf die Inhibition der klinisch relevanten hyperfazilitierten Muskeln und anschließend auf die Fazilitation der klinisch inhibierten Muskeln ab. Als therapeutische Inhibitions- und Fazilitationstechniken kommen manuelle, physikalische und minimal invasive Techniken in Frage. Das weitere mittelbare Vorgehen trainiert dann das gesamte sensomotorische System in einer optimalen Körperhaltung (Posture).
Exkurs: Die Schulterblattfixatoren kann man funktionell in obere und untere Schulterblattfixatoren einteilen.
Die fünf oberen Schulterblattfixatoren
• M. trapezius, pars descendens
• M. levator scapulae
• M. pectoralis minor
• M. coracobrachialis
• M. biceps brachii, caput breve
werden aus überwiegend tonischen Alphamotoneuronen des Rückenmarks innerviert und zeigen klinisch eine deutliche Tendenz zur erhöhten Reizbarkeit (Fazilitation) und funktionellen Hypertonie.
Die drei unteren Schulterblattfixatoren
• M. trapezius, pars ascendens
• Mm. rhomboidei
• M. serratus, pars anterior
werden aus überwiegend phasischen Alphamotoneuronen des Rückenmarks innerviert und zeigen klinisch eine deutliche Tendenz zur funktionellen Inhibition.
Bewegungen des Armes sind auf die posturale Stabilisierung des Schultergürtels, v.a. der Scapula, angewiesen. Diese Stabilisierung findet bereits antizipatorisch (feed-forward) mit der Aktivierung der Wirbelsäulenstabilisierenden, segmentalen Muskulatur (punctum fixum), der Aktivierung des M. serratus anterior, der Mm. rhomboidei und des M. trapezius pars ascendens statt. Diese feed-forward-Software ist im Motokortex programmiert.
Die physiologische Muskelaktivierung im Schultergürtel bei Armabduktion:
- Wirbelsäulenstabilisierende Muskulatur (Mm. segmetales)
- untere Schulterblattfixatoren, v.a. M. serratus anterior
- M. supraspinatus
- M. deltoideus
- ab ca. 60° M. trapezius pars descendens
Diese physiologische Reihenfolge der Muskelaktivierungen (chronologische Kinetik) ist Garant eines physiologischen und damit ökonomischen und schmerzfreien Bewegungsmusters der Scapula. Alles fängt bei der koordinierten Innervation des tiefen, wirbelsäulenstabilisierenden Muskelsystems an, welches nur auf der Basis einer frei beweglichen Wirbelsäule ohne Funktionsstörungen möglich ist. Hier kommt der Chiropraktik als Wegbereiter einer physiologisch angesteuerten Wirbelsäule eine entscheidende Bedeutung zu, da die gezielten chiropraktischen Impulse nicht nur lokal auf dem behandelten Segment, sondern durch die generierten Afferenzen insbesondere zentralmotorisch wirken. Erst auf der Basis dieser voll funktionsfähigen, sensomotorisch integrierten Wirbelsäule entsteht das physiologische Bewegungsmuster der Scapula. Erst dann können die oberen und unteren scapulakoordinierenden und –fixierenden Muskeln in ihrer physiologischen Kybernetik arbeiten.
Fazit: Eine zentralmotorisch koordinierte Stabilisation ist alles! Beginnend bei der Wirbelsäule bildet sie die Basis für eine physiologisch angesteuerte Scapulabewegung. Ein funktionelles Impingementsyndrom ist das klinische Zeichen einer gestörten Scapulakinetik durch ein falsch koordiniertes Innervationsmuster der verschiedenen, an der Scapulakinetik beteiligten Muskeln. Die Basis bildet eine frei bewegliche, durch das insbesondere tiefenstabilisierende Muskelsystem perfekt sensomotorisch koordinierte, Wirbelsäule.