Dies ist mein Vortragsabstract vom interdisziplinären Symposium Interbild am 14.03.2018 an der Ernst-Abbe-Hochchule Jena:
Langandauerndes Sitzen ist eine heutzutage bei vielen Menschen dominierende Körperhaltung mit inzwischen hinreichend belegten negativen Folgen für unser Bewegungssystem und weitere Organsysteme (vgl. Levine 2014). Daher wird proklamiert, die Sitzzeiten regelmäßig zu unterbrechen und das Sitzen dynamisch zu gestalten, also Bewegung in das Sitzen zu bringen. Nun ist Sitzdynamik nicht gleich Sitzdynamik, denn es gibt hier je nach Stuhlhersteller gravierende Unterschiede. Entscheidend ist die Art der Bewegung, welche das dynamisch gelagerte Sitzsystem auf das Becken und die gesamte Haltungsmotorik des Sitzenden ausübt. Denn dieses dynamische Sitzmuster kann einen entscheidenden Einfluss nicht nur auf die Funktionsfähigkeit des Gesamtkomplexes Wirbelsäule und damit der Rückengesundheit haben, sondern auch einen Einfluss auf die externe Augenmotorik und sogar das Sichtfeld nehmen.
Die visuellen Informationen und damit die Blickziele mit der einhergehenden Verlagerung der Blickachse spielen eine entscheidende Rolle bei der Körperorientierung im Raum. Der Blick ist die visuelle Achse im Raum, zusammengesetzt aus der Position des Auges relativ zur Umgebung, die Position des Auges relativ zum Kopf und die Position des Kopfes relativ zur Umgebung und damit auch relativ zum restlichen Körper (vgl. Cullen & Guitton 1997). Die periphere Retina ist für die dynamische Haltungskontrolle wichtig (Berthoz 1974), weil dort das visuelle Raumorientierungssystem seinen Ausgangspunkt hat (Levin & Arnold 2005). Hinzu kommt die Propriozeption der äußeren Augenmuskeln. So konnten Roll, Vedel & Roll 1989 zeigen, dass durch Vibrationsstimulation der äußeren Augenmuskeln (10 bis 80 Hz) propriozeptive Afferenzen ausgelöst werden, die eine Bewegungsillusion der Augen mit dem Eindruck einer visuellen Zielobjektverschiebung und entsprechende posturale Effekte hervorrufen.
Dies zeigt, dass die motorische Steuerung und Regelung der Augen (Okulomotorik) als auch die motorische Steuerung und Regelung der Wirbelsäule (Vertebralmotorik) funktionell eng miteinander verschaltet sind. Dieses Zusammenspiel beider motorischer Systeme wird als Visuomotorik bezeichnet (Friedrich & Seidel 2017). Zusammen mit dem vestibulären System sind diese maßgeblich für die Aufrechterhaltung des posturalen Systems verantwortlich.
Kopplung von vertebraler Motorik und Okulomotorik
Propriozeptive, vestibuläre und visuelle Informationen werden auf Ebene des Hirnstammes integriert (Friedrich & Seidel 2017; Garten 2016) (vgl. Abb. 1). Über den Lemniskus medialis („Körperfühlbahn“, verläuft im Hirnstamm von den Hinterstrangkernen zum Thalamus), den Fasziculus longitudinalis medialis (Fasersystem vom Mesencephalon zum thorakalen Rückenmark) und den Tractus vestibulospinalis wird eine Verbindung von den Vestibulariskernen und den Kernen der externen Augenmuskeln einerseits und der Propriozeption aus der autochthonen Wirbelsäulenmuskulatur andererseits hergestellt.
Abb. 1: Kopplung von vertebraler Motorik und Okulomotorik (aus: Garten 2016).
So sind die lateralen Augenmuskeln (Mm. rectus lateralis) und die lateralen autochthonen Muskeln der Wirbelsäule (Mm. intertransversarii) gleichsinnig innerviert und ebenso die medialen Augenmuskeln und die medialen autochthonen Muskeln (Mm. rotatores und multifidi). So bilden die lateralen und die medialen autochthonen Muskelsysteme der Wirbelsäule jeweils ein gleichsinniges Innervationsmuster, wenn die Bewegungsrichtung von den Augen getriggert wird. Die Augenmotorik stellt somit eine Möglichkeit dar, die unwillkürlich innervierbare Wirbelsäulenmuskulatur indirekt willkürlich über die Augenbewegungen zu beeinflussen (vgl. Corneil et al. 2004). Manualtherapeutisch wird dies z.B. bei postisometrischen Relaxationstechniken oder vertebralen Manipulationen ausgenutzt.
Wird die Bewegung von einer Kopfrotation getriggert, kehren sich die Verhältnisse um: Eine Rotation des Kopfes nach rechts durch Kontraktion der medialen autochthonen HWS-Muskeln (Mm. rotatores) links und der lateralen autochthonen HWS-Muskeln (Mm. intertransversarii) rechts (gekoppelte Mechanik der Halswirbelsäule) ist daher reflektorisch mit einer Kontraktion des M. rectus medialis des rechten Auges und des M. rectus lateralis des linken Auges verbunden (die Augen drehen gegensätzlich der Kopfrotation). Wir sprechen hier von dem zervikookulären Reflex (COR, Garten 2016) als einen Hirnstammreflex. Dieser trägt neben dem dominierenden und schnell leitenden vestibulookulären Reflex (VOR) dazu bei, dass die Augen einen Fixpunkt bei einer sich verändernder Kopfposition halten können (Garten 2016; Klinke et al. 2009).
Willkürliches Mitführen der Augen in die Richtung der Kopfdrehung (M. rectus lateralis rechts und M. rectus medialis links bei Kopfrotation rechts) wird diesen Reflexmechanismus, wie bereits oben beschrieben, maskieren (Garten 2016).
Konsequenzen motorischer Funktionsstörungen
Eine Tonusstörung der extraokulären Muskeln kann zu einem fehlerhaften Körperhaltungsprogramm mit z.B. immer wiederkehrenden Funktionsstörungen der Wirbelsäule führen (Garten 2016). Diese Funktionsstörung der extraokulären Muskeln kann wiederum durch Aktivitätsstörungen des ZNS infolge von Fehlafferenzierungen aus den Propriozeptoren begründet sein, z.B. bei zervikalen Dysfunktionen oder Dysfunktionen in anderen Bereichen des Bewegungssystems wie dem Iliosakralgelenk (und damit selbst funktionell sein). Als Ursprünge von Fehlafferenzierungen spielen die Regionen mit der höchsten Propriozeptorendichte (stomatognathes System, HWS, Lumbo-sakro-iliakalregion und Füße) die wichtigste Rolle (vgl. Friedrich & Seidel 2017). Okulomotorische Störungen können sowohl als Ursache wie als Folge von Abweichungen der Haltungsreaktion in Frage kommen. So kann es bei Dysbalance der autochthonen Muskulatur zur Dysbalance der Augenmuskeln kommen. Konvergenz- und Fusionsschwächen (d.h. nicht zur Deckung bringen der Bilder beider Augen) können die Folge sein. So zeigen sich häufig Besserungen von Konvergenz- und Fusionsschwächen nach der Beseitigung primärer oder sekundärer Funktionsstörungen der Kopfgelenkregion (z.B. als Folge von Malokklusion oder aufsteigenden Störungen des Achsenorgans, Garten 2016).
Nur in Fällen von manifestem Schielen liegt der Dysbalance der extraokulären Muskeln eine eindeutige anatomische Ursache zugrunde.
Folgen einer vertebralen Hypoafferenzierung für das Sichtfeld
50% der visuellen Afferenz eines Auges und alle propriozeptiven Afferenzen kreuzen zur kontralateralen Seite des Thalamus. Bei Hypoafferenzierung kann es durch die Inhibition des kontralateralen Thalamus zu einer verminderten kortikalen Aktivität kommen. Dies führt als Teilaspekt der thalamischen Funktion (Corpus geniculatum laterale) dazu, dass sich der physiologische blinde Fleck auf der Seite der Hypoafferenzierung vergrößert (vgl. Carrick 1997). Der physiologische blinde Fleck ist somit ein subjektiv erfassbarer Parameter des Funktionszustandes des Thalamus.
Abb. 2: Der blinde Fleck ist auf der Seite der Hypoafferenzierung, also auf der Gegenseite der kortikalen Schwäche, vergrößert. Im unteren Abschnitt des blinden Flecks spiegelt sich die Funktion des Lobus parietalis, im oberen die Funktion des Lobus temporalis (aus: Garten 2016).
Bei Verbesserung der neurologischen Aktivität, in diesem Fall einer Besserung der Propriozeption, wird der blinde Fleck kleiner (Carrick 1996, 1997). Für die Größe des blinden Flecks gibt es keinen verbindlichen Normwert, die Seitendifferenz ist das wichtigste Kriterium. Nach Verbesserung der Afferenzierung wird sich der vergrößerte blinde Fleck dem kontralateralen angleichen. Wenn der blinde Fleck links größer ist, müssen die Propriozeption bzw. allgemein die Afferenzen links verbessert werden und umgekehrt.
Die autochthone Muskulatur als wichtiger Afferenzgenerator
Unter der autochthonen Muskulatur wird die ortsständige (=autochthone) Rückenmuskulatur verstanden, welche aus den Rami posteriores des jeweiligen segmentalen Spinalnerven innerviert wird und in die Fascia thoracolumbalis eingehüllt ist. Dieser Muskelkomplex liegt dicht der Wirbelsäule an und hat eine primär Wirbelsäulen-stabilisierende und –koordinierende Funktion (Tiefenstabilisierendes System) (Hamilton 2012; Richardson et al. 2009).
Wie alle Rumpfmuskeln sind auch die tiefen, autochthonen Muskeln kybernetisch betrachtet vorprogrammiert (Hamilton 2012; Richardson et al. 2009). Diese sind jedoch im Gegensatz zu den oberflächlich gelegenen Rumpfmuskeln nicht bewegungsgezielt, sondern im Sinne der Kokontraktion auf kommende motorische Aktionen eingestellt (Hamilton 2012; Richardson et al. 2009). Damit dämpfen sie abweichende intraartikuläre Bewegungen, egal aus welcher Richtung der Stressinput kommt. Diese tiefe Muskelschicht bildet einen die Wirbelsäule umschließenden myofaszialen elastischen Schlauch.
Eine weitere Besonderheit dieses Muskelsystems liegt in der hohen Muskelspindeldichte im Vergleich zu der allochthonen Rumpfmuskulatur (Hamilton 2012; Richardson et al. 2009). Das bedeutet, dass aus diesem Muskelsystem eine besonders hohe propriozeptive Informationsdichte für die zentralmotorische Steuerung und Regelung generiert wird (Wolff 1996). Im Umkehrschluss kann dies aber auch bedeuten, dass bei Bewegungsmangel, insbesondere beim Sitzen auf starren Sitzflächen, die Informationsdichte aus diesem Informationskomplex überproportional abfällt und Probleme der zentralmotorischen Steuerung mit sich daraus entwickelnden Funktionsstörungen des Achsenskeletts generieren können oder bereits bestehende rezeptive Informationsdysbalancen deutlicher zur Geltung kommen.
Diese Probleme der Hypoafferenzierung, gerade aus dem für die Rumpfsteuerung so wichtigen lokalen Muskelsystem, kann als Ursache für viele Funktionsstörungen des Bewegungssystems mit daraus entstehenden Schmerzen und mittel- bis langfristig entstehenden degenerativen Veränderungen der Wirbelsäulenstrukturen verantwortlich sein. Diesem Problem kann hauptsächlich durch einen bewegungsreichen (Arbeits-)Alltag begegnet werden. Im Berufsalltag mit viel sitzenden Tätigkeiten, die sich nur bedingt unterbrechen lassen, bieten speziell dynamische Sitzsysteme eine Möglichkeit, einen erhöhten afferenten Input an die zentralmotorische Steuerung zu generieren.
Dynamische Sitzsysteme
Unter dynamischen Sitzsystemen verstehen wir Stühle, deren Sitzflächen, also die Auflagen für das Becken und die Oberschenkel, beweglich gelagert sind. Hier ist das Angebot augenscheinlich vielfältig, reduziert sich bei genauerer Betrachtung jedoch auf wenige Grundprinzipien. Um den Begriff System jedoch gerecht zu werden, bedarf es mehr als nur eine beweglich gelagerte Sitzfläche. Diese Sitzfläche muss, damit sie zu einem Sitzsystem wird, eine zweckgebundene Einheit mit dem darauf sitzenden Menschen bilden. Betrachten wir zunächst verschiedene Grundkonstruktionen dynamischen Sitzens:
- Das Sitzgestell ist auf einer instabilen oder labilen Unterlage gelagert, z.B. balanciert der Stuhl gleich einem Stehaufmännchen auf einer konvexen Fläche. Dies entspricht von der Bewegungsquantität und -qualität dem klassischen Sitzball, wir sprechen vom Ballprinzip.
- Im unteren Sitzgestell befindet sich ein Bewegungselement, z.B. ein Elastomer, eine Feder, ein Kugelelement oder ein sonstiges Gelenk. Die Sitzfläche schwankt um das Bewegungselement, auch hier finden wir das Ballprinzip.
- An bzw. unmittelbar unter der Sitzfläche befindet sich ein labiles Element.
- Auf der Sitzfläche befindet sich ein labiles Element, z.B. ein Kissen oder Schaumstoffkeil.
All diesen Sitzkonstruktionen ist gemein, das die Sitzfläche in ein oder zwei Ebenen kippt. Je näher der Dreh- oder Rollpunkt an der Sitzfläche ist, desto geringer ist der Raumgewinn der Sitzfläche und desto geringer ist die Körperverlagerung des darauf sitzenden im Raum. Das Problem bei Raumbewegungen des Körpers ist, das wir während diesen Raumbewegungen nicht gut schreiben, tippen oder sonstige feinmotorische Tätigkeiten ausführen können, auch können unsere Augen leicht den Blickkontakt, z.B. auf eine Zeile im PC-Bildschirm, verlieren. Der Sitzende verharrt während diesen feinmotorischen Tätigkeiten in einer angespannten Körperhaltung auf dem Stuhl oder Hocker um den Körper stabil und damit ruhig zu halten. Das beste Beispiel ist hier der klassische Sitzball.
Ein weiteres Problem kippender oder kippbarer Sitzflächen ist häufig die mangelnde Rückmeldung über die horizontale Ebene. Der Sitzende bekommt keine Rückmeldung, ob sich die Sitzfläche in der horizontalen befindet oder noch leicht geneigt ist. Zum Arbeiten, insbesondere bei feinmotorischen Tätigkeiten, z.B. am PC, ist die horizontale Einstellung der Sitzfläche wichtig, da eine nicht horizontale Sitzfläche eine skoliotische Wirbelsäulenauslenkung bedingt, da die Augen und damit auch der Kopf zur Objektfixierung stets horizontal eingestellt bleiben. Dies könnte langfristig Funktionsstörungen der Kopfgelenke und der restlichen Wirbelsäule, ebenso der Okulomotorik, generieren. Auch haben wir bei seitlich kippenden Sitzflächen das Problem, das die physiologischen Beckenstabilisatoren aus dem Stand, die tiefer gelegene Glutealmuskulatur, im Sitzen bei angewinkelten Beinen und einer geringen Fußbelastung nicht fazilitiert sind und auch biomechanisch keine beckenstabilisierenden Effekte haben. Nun müssen kranial des Beckens gelegene Muskeln, insbesondere der M. quadratus lumborum, diese Stabilisationsfunktion übernehmen, wozu diese jedoch kybernetisch nicht geeignet sind und leicht überlastet werden können.
Nun gibt es weitere Möglichkeiten, Sitzflächen dynamisch zu gestalten um den beschriebenen Konflikten aus dem Wege zu gehen. Dabei ist nicht das Ballprinzip oder der Kreisel das Vorbild, sondern das Pendel. Die Sitzfläche wird pendelnd gelagert. Was ist nun der Unterschied zwischen dem Ball- bzw. Kreiselprinzip in einer Sitzfläche zum Pendelprinzip in einer Sitzfläche? Der Ball bzw. der Kreisel oder auch die Wippe verändert die Raumlage, abhängig vom Drehpunkt, wenn sie aus dem Lot gerät. Wir sprechen hier von einer instabilen Instabilität. Das Pendel schwingt immer in das Zentrum zurück, wenn es aus dem Lot gerät bzw. einen externen als auch internen Impuls erfährt. Wir sprechen hier von einer stabilen Instabilität.
Das BIOSWING®-Sitzsystem
Der dynamisch gelagerten Sitzfläche des BIOSWING®-Sitzsystems liegt das oben beschrieben Pendelprinzip zugrunde.
Abb. 3: Das BIOSWING-Sitzsystem, hier am Beispiel des Bürostuhlmodells 660 iQ S, mit seinem charakteristischen Schwingwerk unter der Sitzfläche für eine horizontal pendelnde Sitzflächenverlagerung.
Die Pendelbewegungen der Sitzfläche sind durch Dämpfungselemente gezielt gedämpft. Die gezielte Dämpfung bezieht sich zum einen auf die Bewegungsquantität der Sitzfläche, d.h. die Ausschwingungen sind relativ gering und können ein Frequenzspektrum von ca. 2,7 Hz erreichen. Zum anderen bezieht sich die Dämpfung auf die Qualität der Auslenkung, denn die Dämpfungselemente sorgen für eine ausreichende Verzögerung der Sitzfläche nahe ihres Umkehrpunktes am Ende der Ausschwingung (progressives Schwingverhalten). Warum diese Qualität und Quantität der Sitzflächeninstabilität und warum das Pendelprinzip und nicht das Prinzip der kippenden Sitzfläche? Wenn wir stehen und gehen müssen wir unser Becken als Basis des Rumpfes und Fixpunkte unserer Beine aktiv stabilisieren, d.h. im Raum ruhig halten ohne es wie bei den Models auf dem catwalk abzukippen. Das Becken und der darauf aufbauende Rumpf samt Schultergürtel stellen die Fixpunkte unserer Extremitäten dar und werden durch unser tiefenstabilisierendes Muskelsystem rechtzeitig auf die Zielhandlung ruhig eingestellt. Wir Menschen sind die einzigen aufgerichteten Lebewesen und können in der aufrechten Haltung feinst motorische Aktionen, z.B. das Einfädeln eines Faden in einem Nadelöhr, durchführen. Affen können auch, zumindest kurzfristig, zweibeinig gehen und stehen, müssen sich jedoch setzen, sobald sie etwas feinmotorisch mit ihren Händen manipulieren, z.B. das Knacken einer Nuss. Die Affen setzen sich, um ihr Becken auf einer festen Unterlage zu fixieren. Damit fällt Ihnen die Stabilisation des Rumpfes auf der Basis des fixen Beckens leichter. Das kann man bei uns Menschen auch beobachten, wenn wir etwas sehr feinmotorisches v.a. über eine längere Zeit bewerkstelligen wollen, und sei es nur das Tippen auf der Tastatur. Gerade Menschen mit Instabilitäten im Wirbelsäulen-Beckenbereich setzen sich gerne hin und können nicht lange im Stehen feinmotorisch arbeiten. Beim Sitzen auf einer starren Sitzfläche wird uns die Stabilisation des Beckens massiv erleichtert, denn wir müssen dafür aktiv nichts tun, unsere zentralmotorische Steuerung wird mit weniger Afferenzen versorgt (Hypoafferenzierung) und die Stabilisationsmuskeln können als Folge ihre wichtige Aktionsbereitschaft verlieren.
Positionieren wir unser Becken nun aber auf einem BIOSWING®-Sitzsystem, so bildet die Sitzfläche keinen absoluten Fixpunkt für unser Becken und wir müssen die Stabilisation aktiv bewerkstelligen. Jede Bewegung die wir durchführen, sei es Schwankungen des Rumpfes, Bewegungen der Beine und v.a. der Arme und des Kopfes, aber auch unser Herzschlag und unsere Thoraxbewegungen im Atemrhythmus, führen zu einer Auslenkung der Sitzfläche nach dem Prinzip von Aktion und Reaktion. Diese Auslenkungen werden von den erwähnten zahlreichen Meldeorganen, v.a. in den Muskeln und Haut des Gesäßes, an das zentrale Nervensystem gesendet und führen zu einer aktiven Antwort.
Das tiefenstabilisierende System wird aus der Neutralstellung der Bewegungssegmente optimal aktiviert, um diese zu stabilisieren und eine größere Auslenkung zu unterbinden. Das tiefenstabilisierende System befindet sich die ganze Zeit während des Sitzens auf einem BIOSWING® in einem Stand-by. Hier wird deutlich, warum die Auslenkungen der Sitzfläche klein und horizontal gehalten werden. Ziel ist es, schwerpunktmäßig das tiefenstabilisierende System zu aktivieren um hieraus einen hohen afferenten Input an die zentralmotorische Steuerung zu generieren und Hypoafferenzen zu unterbinden. Bei den kleinen Bewegungen werden überwiegend auch nur die Rezeptoren der v.a. horizontaler verlaufenden Segmentmuskeln gereizt und die Antwort des zentralmotorischen Systems bleibt überwiegend auf dieser segmentalen Muskelschicht begrenzt. Denn diese kleinen, dosiert horizontalen Auslenkungen können aufgrund der Zugrichtung größerer Rückenmuskeln nur von den kleinen, segmentalen Muskeln beantwortet werden. Die ohnehin meist überlasteten großen Muskeln werden über ihre normale Haltefunktion nicht aktiviert, durch das aktive segmentale Muskelspiel sogar entlastet. Wichtig ist es, das die Sitzfläche nach dem Pendelprinzip vom Stuhlgestell entkoppelt ist und die Sitzflächenbewegungen gezielt gedämpft sind. Es darf nie Unsicherheit entstehen bzw. der sitzende darf nie durch plötzliche Bewegungen der Sitzfläche oder der Rückenlehne, z.B. ein Abkippen, überrascht werden. Denn Unsicherheit und Überraschung können zu einer Aktivierung großer Muskelverbände führen, und genau dieses Muskelmuster soll unterbunden bzw. durchbrochen werden.
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