In diesem Beitrag beschäftige ich mich in vier Punkten mit theoretischen Überlegungen zur Steuerung der Motorik. Nach der Darstellung der posturalen Reaktionen, der segmentalen Koordination und der Kontrolle der Körperhaltung komme ich abschließend zu der Organisation der posturalen Programme.
Posturale Reaktionen
Die posturalen Reaktionen (posturalen Programme) stabilisieren jede Haltung und jede Bewegung. Jede Körperhaltung muss gegen die Schwerkraft energieschonend und ohne längerfristige Überlastung (Nozizeption) der muskuloskelettalen Strukturen gesteuert werden.
Jede Bewegung fängt in einer bestimmten Ausgangsposition (posture) an und endet in einer bestimmten Endposition (posture). Die posturale Steuerung stellt die Position einzelner Körpersegmente bereits nach einer Bewegungsabsicht (feed-forward) auf Basis einer Sinneswahrnehmung (v.a. optische Afferenz) durch die differenzierte Aktivierung der segmentalen Muskeln ein. Erst aus dieser gezielt antizipatorisch eingestellten Ausgangsposition kann eine Bewegung (z.B. Lokomotion) zielgerichtet und fein dosiert durchgeführt werden. Die posturale Steuerung muss sich sofort darauf einstellen, ob man einen leichten, mittelschweren oder schweren Gegenstand hebt, wirft, langsam oder schnell reichen oder fangen will. Nach der motorischen Absicht wird die Intensität der synergistischen Aktivierung der segmentalen Muskulatur unter einem ständigen sensorischen Input eingestellt, begleitet von der Aktivität der kurzen und langen polysegmentalen Muskeln. Diese müssen rechtzeitig, gezielt dosiert nachlassen oder sich gezielt schnell kontrahieren können.
Für die zielorientierte Stabilisierung sind drei antizipatorische Erkenntnisse wichtig:
- Das Gewicht der zu bewegenden Gegenstände.
- Die Geschwindigkeit der auszuführenden Bewegung.
- Die Entfernung der Extremitäten / Gegenstände vom Lot.
Posturale Reaktionen äußern sich klinisch durch ausgewogene synergistische Aktivierungen der Muskeln. Diese verhindern in jeder Haltung und bei jeder Bewegung unnötige Schwankungen und Ausweichbewegungen (v.a. in den Gürtelregionen), die entweder zur Unsicherheit in der Haltung und in der Bewegung und zu erhöhter nozizeptiver Afferenz führen.
Kleine Körperschwankungen sind für ein afferentes Grundrauschen nötig. Große Körperschwankungen sollten nicht vorkommen. Eine steife, rigide Haltung ist ebenso ungünstig, weil sie zu Überlastung und zu erhöhter nozizeptiver Afferenz in kurzer Zeit führen kann.
Posturale Programme bestimmen ebenso, wie intensiv bei Verlängerung eines Muskels die exzentrische Muskelaktivität gesteuert werden soll (z.B. die des M. quadrizeps femoris beim Trepabgehen).
Der wichtigste Teil der funktionellen Schmerztherapie im Bewegungssystem ist die Bewertung der stabilisierenden Funktion des ZNS.
Segmentale Koordination – segmentale Stabilität
Die Atmung, die Herztätigkeit und andere Lebensäußerungen verursachen ständig kleine Schwankungen des Körperschwerpunktes des vertikalen Bipeden. Die Korrekturen der Körperschwerpunktverlagerungen erfolgen in einzelnen Segmenten des Körpers besonders durch die koordinierte Aktivierung der segmentalen Muskeln unter sektoraler Stabilität. Die Projektion des Körperschwerpunktes bleibt in der neutralen Zone. Dafür ist eine qualitativ sehr gute Steuerung der Zusammenarbeit der segmentalen Muskeln nötig (segmentale Koordination).
Eine gut gesteuerte Zusammenarbeit der segmentalen Muskeln unter sektoraler Kontrolle stellt während jeder Tätigkeit im Sitzen und im Stehen die notwendige Basis für die schmerzfreie Haltearbeit der Muskulatur an tragenden Gelenke dar.
Die kurzen polysegmentalen Muskeln (sektorale Muskeln) sind an der Einstellung der Freiheitsgrade an tragenden Gelenken beteiligt, jedoch wird die segmentale antizipatorische Koordination primär von der segmentalen Muskulatur realisiert.
Die posturale Steuerung verwendet dafür besonders das kybernetische Prinzip der synergistischen Muskelaktivierung.
Synergistische Muskelaktivierung bedeutet, dass die antagonistischen Muskelpartner gleichzeitig aktiviert werden. Bei Haltearbeit mit gleicher Intensität, bei Bewegung mit unterschiedlicher Intensität. Die Intensität der Aktivierung verändert sich ständig dynamisch, je nach der Verlagerung des Schwerpunktes.
Besonders wichtig ist dabei die exzentrische Aktivierung der Muskeln, die ihre Aktivität dosiert und zielorientiert reduzieren. Sie dürfen die Haltearbeit nicht plötzlich unterbrechen, da die Bewegung sonst sakkadiert (ruckartig) verläuft.
Die Steuerung der exzentrischen Muskelaktivierung stellt eine der schwierigsten Aufgaben für die motorische Programmierung dar.
Kontrolle der Körperhaltung
Zur Kontrolle der Körperhaltung haben sich auf allen Stufen des ZNS spezielle neuronale Programme und Reflexe entwickelt: die posturalen Reaktionen oder posturalen Synergien. Sie werden supraspinal gesteuert und gehen geplanten Bewegungen voraus (feed-forward) bzw. werden in unvorhergesehene Körperschwerpunktverlagerungen eingebaut (feed-back).
Ein Beispiel für eine posturale Reaktion ist die Regulation der Haltung, wenn der Körper beim Stehen aus der senkrechten ausgelenkt wird. Die Korrekturbewegung beginnt mit der Kontraktion der Muskelgruppen, die das Sprunggelenk stabilisieren. In einer festen Sequenz werden dann mit einem zeitlichen Abstand von etwa 20ms posturale Programme aktiviert, die von distal nach proximal die einzelnen tragenden Gelenke und zeitgleich den Stamm mit den Gürtelregionen stabilisieren. Diese Aktivierungen halten den Körper in der Vertikalen bzw. bringen diesen wieder zentral über das Lot.
Drei Gruppen von Sensoren lösen solche posturalen Aktionen und Reaktionen aus:
- Die Sensoren des optischen Analysators (antizipatorische Einstellung der Posture),
- die Sensoren des Vestibularorgans (registrieren die positiven und negativen Beschleunigungen des Kopfes im Raum) und
- die Sensoren der Exterozeption und Propriozeption (Haut, Muskel, Gelenke – erfassen die Kinetik der einzelnen Körperabschnitte).
Solche posturalen Reaktionen sind programmiert und entstehen durch ein aneinanderreihen einzelner Programme zu einem posturalen Programm. Diese sind keine Reflexe (obwohl des Öfteren fälschlicherweise so genannt), sondern eine hoch koordinierte und getriggerte Synergie, die von einem zentralen Programm aufgerufen wird. Bei der beschriebenen Standkorrektur ist nur die erste Reaktion der Programmsequenz ein Reflex im eigentlichen Sinn (Aktivierung der Sensoren, die z.B. die Position des Sprunggelenks messen).
Bei den posturalen Programmen unterscheidet man
- Stellsynergien (Stellreflexe) und
- Haltesynergien (Haltereflexe)
Stellsynergien:
Sie richten den Körper in die Vertikale gegen die Schwerkraft auf. Ein Beispiel für einen solchen Synergismus ist die Regulation der Kopfposition. Der Kopf wird unabhängig von der Lage des Körpers immer vertikal im Schwerekraftfeld gestellt. Verantwortlich dafür sind Stellsynergien, zu deren Sensorgebiet der Vestibularapparat, die Propriosensoren der Nackenmuskulatur, der Bindegewebeapparat der Wirbelsäule sowie die Sensoren des optischen Systems samt der Oculomotorik gehören. Diese Sinnessysteme ergänzen und ersetzen sich gegenseitig. Das zentrale Verarbeitungssystem der Kopfstabilisierung liegt in der Formatio reticularis.
„Nach Hassenstein (1977) führt das Gehirn bei der Steuerung des Gleichgewichts eine mathematische Operation durch: Aus den oberen Halssegmenten (C2-C4) ziehen propriozeptive Afferenzen direkt (monosynaptisch) zum Vestibulariskerngebiet im Stammhirn. Dort kommt es zur kombinierten Verrechnung mit Informationen zur Stellung des Kopfes im Raum aus dem Lybyrinth, ergänzt durch visuelle und akustische Daten, die das labyrinthäre Messergebnis bestätigen. Die Information der Nackenrezeptoren bestätigen diese Messung jedoch nicht! Denn da die posturalen Gleichgewichtsreaktionen der Wirbelsäule und Extremitäten dazu dienen, den Rumpf im Raum zu stabilisieren und nicht den Kopf, der sich frei bewegen will, muss das von den Nackenpropriozeptoren gelieferte Messergebnis über die Winkelstellung „Kopf und Rumpf“ vom okulolabyrinthären Ergebnis subtrahiert werden. Hassenstein (1988) fasst diesen Vorgang der Information über die Raumlage des Körpers in nachfolgende Formel:
W (Körper) = W (Kopf) – W (Winkel Kopf/Rumpf)
- W (Körper) steht für die Wahrnehmung der Raumlage des Körpers
- W (Kopf) für die Wahrnehmung aus Labyrinth, Augen und Ohren
- W (Winkel Kopf/Rumpf) für die Information aus den Nackenrezeptoren. […]
Das unreife Gehirn des Neugeborenen ist nicht in der Lage, diese mathematische Operation zur Steuerung der Körperaufrichtung und des Gleichgewichts durchzuführen. Mit zunehmender Reifung des ZNS steigt auch die Fähigkeit, periphere Wahrnehmungsreize zentral zu verarbeiten und in zunehmend differenzierte stütz- und zielmotorische Leistung umzuwandeln. Das Anheben des Kopfes aus dem Unterarmstütz gegen Ende des 3., spätestens des 4. Monats ist der erste sichtbare Schritt im Aufrichtungsprozess: Gestützt auf seine Unterarme, kann das Kind den Kopf im Nacken so reklinieren, dass die Augen geradeaus schauen. Der Kopf ist lotrecht zur Schwerkraft eingestellt. Es ist kein Zufall, dass diese Leistung mit dem Ende der „physiologischen Frühgeburtlichkeit“ im 3. Lebensmonat zusammenfällt“ (Coenen 2010).
Haltesynergien:
Diese Synergien koordinieren die Tonusverteilung zwischen den verschiedenen Muskeln. Ein Beispiel sind die tonischen Nackenreflexe. Diese gehen von den Propriosensoren der kurzen Nackenmuskeln sowie den Sensoren des Labyrinths aus und bereiten die Körperhaltung entsprechend der Kopfstellung auf die nächste Bewegung vor.
(Stützreaktionen: Bei ihnen handelt es sich um eine Gruppe von interaktiven Dehnungsreflexen. So wird z.B. die positive Stützreaktion, die zu einer säulenartigen Versteifung der Extremitäten führen kann, durch den Kontakt der Fußsohle mit dem Boden und nachfolgender Dehnung der distalen Flexoren ausgelöst. Dies bewirkt eine koordinierte Kontraktion antagonistischer Muskeln (Synergismus) zu einer Stabilisierung des Beines im Stand.)
Organisation der posturalen Programme
Die posturalen Programme werden auf allen Stufen des Nervensystems organisiert, aber dem Hirnstamm kommt eine entscheidende Rolle zu. In ihm findet die Abstimmung zwischen den wesentlichen Sensorgebieten der posturalen Reaktionen statt. Über absteigende Trakte hat er monosynaptischen Zugriff auf die Motoneurone der Rumpfmuskulatur und der Muskulatur der tragenden Gelenke (Antischwerkraftmuskeln). Diese monosynaptische Verschaltung garantiert, dass ein im Hirnstamm ausgearbeitetes Haltungssignal direkten und unveränderten Zugang zu den Motoneuronen hat. Zusätzlich sind im Hirnstamm die neuronalen Systeme lokalisiert, die über oligosynaptische Bahnen das Erregungsniveau der Muskeln der tragenden Gelenke einstellen. Es handelt sich hier um ein pontines, extensorförderndes und ein bulbäres, extensorhemmendes System. Das extensorfördernde System wird von Kollateralen aller aszendierenden somatosensorischen Trakte tonisch aktiviert, das extensorhemmende System von kortikalen Gebieten. Die Aktivität beider Systeme wird vom Cerebellum (N. fastigii) koordiniert. Diese Verschaltungen sind die Grundlage für die Abstimmungsvorgänge zwischen posturalen Reaktionen und der Willkürmotorik. Störungen in diesem System können zu drastischen Fehlregulationen führen. Ein Beispiel ist die Dezerebrierungsstarre, bei der aufgrund einer zentralen Läsion oder Dysfunktion die Wirkung des extensorfördernden Systems auf die Rückenmarksmotoneurone verstärkt ist. Dies führt zu einer tonischen Aktivierung der Antischwerkraftmuskulatur, verbunden mit einer Steigerung der Muskeldehnungsreflexe. Abhängig von der Art der zentralen Störung, steht dabei eine überwiegende Aktivierung der alpha- oder gamma-Motoneurone im Vordergrund.
Literatur
Coenen, W. (2010) Manuelle Medizin bei Säuglingen und Kindern. Springer.
Hassenstein, B. (1977) Biologische Kybernetik. Quelle & Meyer.
Schmidt, R. F. (1995) Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer.