Erst Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Information als Objekt der Wissenschaft entdeckt. Diese Entdeckung hat unsere technisch-zivilisatorische und geistig-wissenschaftliche Welt gleichermaßen revolutioniert!

Weite Bereiche des Lebendigen, die bisher keiner naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zugänglich waren, werden durch die neue Sichtweise verstanden. Es ist also logisch, das Nervensystem als angewandte Informationstheorie, Kybernetik und Systemtheorie zu interpretieren.

„Die Informationstheorie beschäftigt sich mit den Gesetzmäßigkeiten, nach denen eine Information vollständig und unverfälscht von der Quelle über einen Kanal zum Empfänger gelangt. Ein solcher Vorgang spielt sich stets nach dem […] Grundschema ab, das auch auf die neurophysiolo­gischen Regelvorgänge angewandt werden kann: Von der Informationsquelle gelangt die Information an einen Sender, wird dort in bestimmte, z.B. elektromagnetische Signale verschlüsselt, in dieser verschlüsselten Form über einen Übertragungskanal an den Empfänger weitergereicht, dort entschlüsselt und kann so vom Informationsverbraucher verstanden werden. […] Der Transport von Information geschieht immer mithilfe von Verschlüsselung (Kodierung). Diese Regel gilt ebenso für die Reizleitung im Nervensystem, in dem elektrische Impulsfolgen (Aktionspotenziale) zur Nachrichtenübermittlung verwendet werden“ (Coenen 2016).

Folgt man diesem von Coenen beschriebenen Ansatz, dann ergeben sich völlig neue Möglichkeiten, bis dahin unerklärliches zu erklären. Es eröffnen sich Perspektiven, die einer primär morphologisch, pathologisch-anatomisch orientierten Interpretation des Nervensystems verschlossen bleiben. Vor allem dann, wenn es – wie in der sensomotorischen Schmerztherapie – um patho­physiologische, d.h. um funktionelle Probleme geht, bei denen die Neurophysiologie eine dominierende Rolle spielt, ist der neue Denkansatz unverzichtbar.

Der grundsätzlichen Entdeckung der „Information“ als Wissenschaftsobjekt folgte eine Flut weiterer Entdeckungen:

Die wichtigste betrifft den Regelkreis. Dieses Funktionsprinzip der rückgekoppelten, kreisförmigen Schaltung eines Informationsflusses (feedback control) wurde in der Biologie mehrfach entdeckt. In das allgemeine Bewusstsein fand es erst durch die wissenschaftlich-literarische Leistung von Norbert WIENER (1948) Eingang. Er gab der Lehre von den rückgekoppelten Regelungen und Steuerungen den Namen Kybernetik.

Durch das Wissen um die Rückkoppelung wurden die Probleme der Konstanterhaltung von Messwerten in der Biologie (z.B. Körpertemperatur, konstante chemische Parameter) durchsichtig und modellierbar. Im Bauplan von biologischen informationsverarbeitenden dynamischen Systemen spielen Regelmechanismen, d.h. kybernetische Prinzipien, eine wesentliche Rolle.

Aus dieser Sicht ist auch das Bewegungssystem ein informationsverarbeitendes dynamisches System. Darunter versteht man eine sinnvolle, zielgerichtete Ordnung heterogener Einzel­elemente, die durch Information gesteuert werden.

Es ist also unerlässlich, sich auch bei diesem Teil des Gesamtorganismus, der anscheinend nur mechanische Arbeit leistet, mit angewandter Informationstheorie, Kybernetik und Systemtheorie, d.h. im Klartext mit Neurophysiologie zu befassen.

Daraus ergibt sich, dass die Funktion des Bewegungssystems nicht nur als mechanische Arbeit, sondern als die gemeinsame Leistung all seiner Systemteile, also auch der ihm zugeordneten Teile des Nervensystems, zu verstehen ist.

„In den Gleichgewichtssensoren des Lybyrinthorgans sowie den propriozeptiven Sensoren von Muskeln, Sehnen und Gelenk­kapseln werden die Stellung des Kopfes im Raum, seine Position zum Rumpf, die räumliche Stellung des Körpers und die Winkelstellung der Extremitäten registriert, unterstützt durch das Richtungssehen und Richtungshören. Aus der Summe dieser Informationen ergibt sich die Planung und Ausführung der stütz- und zielmotorischen Leistung“ (Coenen 2016).

Die zentrale Bedeutung der Sensorik für die Entstehung motorischer Leistungen wird nach Coenen (2016) wie folgt veranschaulicht:

„Sensorische Daten gelangen zu verschiedenen, untereinander verbundenen spinalen und supraspinalen Zentren. Dort findet eine komplexe Verrechnung der biologischen Daten statt, deren Ergebnis die Muskelleistung und  damit eine neue sensorische Situation ist.

Die von den Sensoren aufgenommenen Sinnesreize werden in verschlüsselter Form als Wahrnehmungsinformation über afferente Bahnen zentralwärts geleitet und erreichen zahlreiche Areale und Kerngebiete im Gehirn sowie spinale Interneurone und Motoneurone. Eine besondere Stellung nimmt der Motokortex ein: Er steht am Übergang von Programm und Ausführung und erreicht die motorischen Zentren im Rückenmark sowohl über den Hirnstamm als auch ohne Umschaltung direkt über den Tractus corticospinalis.

Das Sinnesreize die Vorbedingung von Muskelarbeit sind, lässt sich schon an den General Movements des jungen Säuglings beobachten. Obwohl die Bewegungen unkontrolliert sind und keinerlei stütz- oder zielmotorische Funktion haben, treten sie nur beim wachen Säugling auf, nicht dagegen im Schlaf. Die Verarbeitung von Wahrnehmungsinformationen in motorische Leistung setzt also grundsätzlich auch Vigilanz voraus. (Das weiß jeder, der einmal bei einer langweiligen Vorlesung einschlief und vom Stuhl zu rutschen drohte, weil die stützmotorische Kontrolle versagte)“.

Vom „Vater“ der Kybernetik, Norbert WIENER (1963) stammt der Satz,

„dass jedes agierende und reagierende System in Biologie oder Technik auf die Elementarkategorien Materie, Energie, Steuerung und Zeit zurückzuführen ist.“

Da das Bewegungssystem wie oben beschrieben als informationsverar­beitendes, dynamisches System zu interpretieren ist, ergibt sich daraus folgende Zuordnung:

Elementarkategorie 1:

Die Materie umfasst die passiven Strukturen wie Knochen, Knorpel, Kapseln und Bänder. Auch die Gelenkmechanik mit der dafür notwendigen Synovialflüssigkeit gehört hierher.

Elementarkategorie 2:

Die Energie ist repräsentiert in der Muskulatur: In Form ihrer energieliefernden Mikrostrukturen und in Form ihrer makroskopischen Muskelindividuen mit Faszien und Sehnen.

 Elementarkategorie 3:

Die Steuerung meint die Summe der neurophysiologischen Verbundsysteme, die in ihnen transportierten und verarbeiteten Informationsströme und die auf deren Auswertung beruhenden Leistungen.

Elementarkategorie 4:

Die Zeit ist hier immer die für das System belangvolle Zeit – die Zeit vom Beginn der Funktionsfähigkeit bis zu deren Erlöschen, nicht die absolute grenzenlose Zeit. Erfahrungen werden nutzbar gemacht.

Aus dieser Sicht ergibt sich zwingend, dass es unzureichend ist, den Begriff Funktion am Bewegungssystem nur mit Gelenkmechanik und Muskelarbeit gleichzusetzen.

Funktion umfasst die intakte, gemeinsame und zielorientierte Leistung aller Systemteile in der Zeit (vgl. Wolff 1996).

Die Motorik ist Ausdruck eines komplexen Steuer- und Regelungssystems (Biokybernetik). Das ZNS bearbeitet Informationen aus den Sensoren (Rezeptoren) und gibt nach der Bearbeitung der Eingangsinformationen die Befehle zu den Ausführungsorganen. Im sensomotorischen System sind Ausführungsorgane Muskeln.

Die Kybernetik ist die Lehre der Steuerung und Regelung (aus dem griechischen „Steuermann“). Diese Lehre beinhaltet die Definition der Daten (Informationen), welche aus den Sensoren  verschlüsselt (Kodiert) zu den bearbeitenden Zentren geleitet werden.

Das ZNS ist ein computerähnliches Steuerungszentrum mit Programmen, welche die zahlreichen Inputinformationen dekodieren, selektieren und bearbeiten.

Diese Programme sind die „Software“ des Nervensystems.

Die „Hardware“ wird durch die Zellen des Nervensystems (Neurone) gebildet.

Für die motorische Steuerung sind entscheidend:

  • Die Rezeptoren der visuellen Analysatoren (optische Afferenz).
  • Die Rezeptoren der Vestibularapparate (vestibuläre Afferenz).
  • Die Mechanorezeptoren (v.a. Propriozeptoren = Afferenz der Gewebekinetik).
  • Die Nozizeptoren (Afferenz der Gewebebeeinträchtigung).

Weiter können wir Funktionsbereiche des Körpers, die durch ihre hohe Dichte an Rezeptoren eine große Bedeutung für das posturale System haben, als Rezeptororgane bezeichnen:

  • Das pedale Rezeptororgan (Fuß inkl. OSG)
  • Das craniozervikale Rezeptororgan (Kopfgelenke)
  • Das stomatognathe Rezeptororgan (Kiefer-, Mund-, Kopf- und Zahnbereich)
  • Das visuelle Rezeptororgan (Auge samt Muskulatur)

Information im biokybernetischen System

Zum Verständnis der Bedeutung der Information in einem biokybernetischen System eignet sich die Darstellung eines Strichcodes (Barcode), bei dem jeder Strich für eine Zahl steht. Alle Striche zusammen sind ein Quantum, ein Paket der kleinsten Mengeneinheit, welches eine Gesamtinformation darstellt. Diese Zahlen sind im übertragenen Sinne die Daten aus den Körperrezeptoren. Diese Daten werden digital übertragen, es gibt also nur zwei Zustände (ein Bit): 0 (off) und 1 (on).

Mit Datenübertragung oder Informationsübertragung bezeichnet man alle Methoden, die Informationen von einem Sender (Informationsquelle = Rezeptor) zu einem Empfänger (Informationssenke = ZNS) übermitteln. Technisch wird dazu vom Sender (Rezeptor) eine physikalische Größe (beispielsweise elektrische Spannung) zeitlich variiert und vom Empfänger (ZNS) gemessen.

Die Rezeptoren des Körpers haben folgende, schematisch dargestellte Eigenschaften:

Grafik Biokybernetik

Die Gelenkkapsel wird bei der hier vereinfachten zweidimensionalen Darstellung bei der Flexion eines Gelenkes auf der Flexionsseite (Konkavität) entspannt, auf der Extensionsseite (Konvexität) angespannt. Die in der Kapsel befindlichen Rezeptoren registrieren die unterschiedlichen Spannungen und geben diese als Informationen weiter. Diese sind z.B. auf einem Oszilloskop graphisch darstellbar und in akustische Signale transformierbar.

Das Ergebnis sind dann unterschiedliche akustische Signale, die je nach Kapselspannung eine unterschiedliche Frequenz haben. So z.B. eine hohe Frequenz auf der Extensionsseite des Gelenkes und eine niedrige Frequenz auf der Flexionsseite. Diese Rezeptorsignale sind lediglich Informationen, welche über die afferenten Nervenbahnen die spinale Ebene erreichen.

Im Rückenmark werden diese Informationen übersetzt und zum ersten Mal bearbeitet. Steigen diese Informationen auf und erreichen schließlich die kortikale Ebene, können diese Informationen bewusst werden und lassen die Interpretation z.B. als Winkelstellungen des Gelenkes zu. Prinzipiell sind die Informationen in diesem einfachen Beispiel nichts anderes als die Spannungsverhältnisse in der Kapsel bzw. den Körper­weichteilen.

Hypermobile Menschen mit einer bindegewebigen und damit einhergehenden artikulären Hypermobilität müssen für den gleichen Informationsinput eine größere und schnellere Gelenk­bewegung ausführen. Diese Menschen bekommen eine verspätete Information über ihre Gelenkwinkelstellung bzw. haben einen Mangel an propriozeptiven Input. Dadurch stellt sich erst verspätet eine Information ein, was z.B. schneller zu einer Verletzung führen kann (z.B. Supinationstrauma im OSG). Dies erfordert eine bessere und schnellere Verarbeitung der Eingangs­infor­mationen und stellt erhöhte biokybernetische Anforderungen an die zentralen Programme. Diese erhöhten Anforderungen an die Informations­verarbeitung machen das System anfälliger, z.B. bei Ermüdungs­zuständen.

Eine schlechte Inputinformation (Afferenz) erfordert eine gute zentrale Steuerung um funktionelle Schmerzen im Bewegungs­system zu vermeiden. Ein guter Input und eine gute zentrale Steuerung werden keine funktionellen Schmerzen im Bewegungssystem verursachen.

Der Informationsinput (Afferenz) z.B. aus den Rezeptoren des OSG, die spinale Verarbeitung und der Informationsoutput (Efferenz) an die OSG stabilisierende Muskulatur (v.a. die phasischen mm. peroneii) zur Sicherung vor einem Supinationstrauma stellt die kleinste kybernetische Einheit dar.

Jede Muskelanspannung ist eine Quelle einer neuen Rückmeldung (erneuter afferenter Informationsinput), da auch die Muskulatur und die Muskelsehnen über zahlreiche Rezeptoren verfügen. Dieser Regelkreis ist ein ständig offener Kreis in dem die Informationen „zirkulieren“.

Durch manualmedizinische Techniken wie der Chiropraktik werden Sensoren/Rezeptoren von Haut, Unterhaut, Faszien und Muskulatur (je nach Gewebetiefe) erreicht, die als Afferenzen zum ZNS gelangen. Das ZNS startet entweder eine Minusreaktion (Releasereaktion) oder bei druckstarken Technik eine Plusreaktion (Anspannungs­reaktion) als Antwort.

Der Effekt des chiropraktischen Impulses ist nicht die mechanische Veränderung des Gewebes, sondern ein gezielter Input aus der betroffenen Region an das ZNS.

Die intramuskuläre Koordination im Regelkreis

Die sensiblen Bahnen des peripheren Nervensystems leiten Informationen der peripheren Rezeptoren als Aktionspotentiale an das ZNS (sensorische Afferenz oder Input).

Outputinformationen vom ZNS erreichen das Erfolgsorgan, z.B. einen Skelettmuskel, als Aktionspotential. Dies führt bei Überschreitung der Reizschwelle zu einer Zuckung der Muskelfaser. Nach dieser einmaligen Zuckung (Depolarisation) ist die Muskelfaser vorübergehend nicht mehr erregbar (Refraktärphase). Diese Refraktär­phase beträgt beim Skelettmuskel wenige Millisekunden (ca. 120ms). Damit ein Muskel eine konstante Kraft aufbringen kann, arbeiten die Muskelfasern im Heterochronismus. Während ein Teil der Muskelfasern refraktär sind, sind andere Muskelfasern depolarisiert. Dieser Wechsel unter den Gesamtfasern führt zum scheinbar gleichmäßigen Kontraktionsverhalten des Gesamtmuskels (gut gesteuerte intramuskuläre Koordination). Eine große Kraftanstrengung, die einen Muskel maximal belastet, führt zu einer Synchronisation im Innervationsmuster der Muskelfasern. Dies hat eine synchrone Zuckung eines Großteils der Fasern zur Folge und führt zu einer synchronen Depolarisation. Das scheinbar gleichmäßige Kontraktionsverhalten des Muskels kann nicht mehr aufrechterhalten werden und der Muskel beginnt nun sichtbar zu Zittern.

Zittern kann Ausdruck einer gestörten intramuskulären Koordination sein. Muskelzittern bei alltäglichen Belastungen ist Ausdruck einer gestörten spinalen Steuerung (oder stark ermüdeter Muskulatur), da im Innervationsmuster die Synchronisation bereits ohne starke Belastung besteht.

Abschließende Anmerkung

Das neurale System stellt nur eine Form von Informations­transport im Körper dar. Es dient den schnellen bis ultraschnellen Informationsübertragungen und Informationsverarbeitungen. Die humoralen, hormonellen und anderen informationsverarbeitenden Systeme bzw. die genetischen Kodes, die Informationen von Generation zu Generation weitergeben, arbeiten mit ganz anderen Medien in ganz anderen Zeitdimensionen.

Quellen

Coenen, W. (2016) Manuelle Medizin bei Säuglingen und Kindern: Entwicklungsneurologie – Klinik – Therapeutische Konzepte. Springer-Verlag, Heidelberg.

Hassenstein, B. (1984) Biologische Kybernetik. Eine elementare Einführung. Quelle + Meyer- Verlag, Wiebelsheim.

Wiener, N. (1969) Kybernetik – Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Rowohlt-Verlag, Reinbek.

Wolff, H.-D. (1996) Neurophysiologische Aspekte des Bewegungssystems. Springer-Verlag, Heidelberg.