Voraussetzung für jede Bewegung ist die Absicherung gegen die Schwerkraft!

Nur auf dieser Systemstabilität ist eine zielgerichtete Motorik möglich.

Bei jeder Extremitätenbewegung verändert sich der Körperschwerpunkt nach dem Gesetz der Aktion und Reaktion.

Die Kybernetik des ZNS aktiviert Muskel­gruppen, welche die rechtzeitige Einstellung der Fixpunkte und Mobilpunkte sicherstellen. Bereits vor einer Bewegung muss vom ZNS berechnet werden, wie intensiv die stabilisierende Muskelaktivität sein soll (sog. Feed-Forward-Steuerung).

Stabilisierung der Motorik

 In der menschlichen Motorik werden zwei Funktionen, vergleichbar mit Oberprogrammen eines Computers, unterschieden:

Die posturale Funktion der Motorik (Haltung, Synergismus)

Die phasische Funktion der Motorik (Lokomotion, reziproke Inhibition)

Diese zwei Funktionen ergänzen sich. Jede Lokomotion eines Körperabschnittes muss rechtzeitig (antizipatorisch) durch die posturale Funktion stabilisiert werden. Nur so sind zielgerichtete Bewegungen möglich. Darum kann aus diesen zwei Funktionen (Oberprogrammen) eine Dritte (Unterprogramm) abgeleitet werden:

Die teleologische Funktion der Motorik [teleos = Ziel] (Timing und Antizipation von Gewicht, Bewegungs­geschwindigkeit und Entfernung von Gegenständen führt zu einer unterschiedlichen Aktivität der „Muskelschichten“ und einer differenzierten Stabili­sierung)

Die Bewegungssteuerung beinhaltet deshalb immer zuerst die Komponente, die den Körper zielorientiert gegen die Schwerkraft einstellt und dann die zweite Steuerungs­komponente für den Lagewechsel.

Ergänzend sei noch eine vierte Funktion der Motorik genannt:

Die ideokinetische Funktion der Motorik (Gedanken werden durch Muskeltätigkeiten zum Ausdruck gebracht).

Die posturale Funktion der Motorik

Der posturalen Funktion kommt in der Motorik von uns Bipeden eine überragende Bedeutung zu. Sie muss sowohl die Körperhaltung als auch die Lokomotion zeitgleich sichern.

Als posturale Funktion bzw. posturale Reaktionen bezeichnet man synergistische Muskelaktivierungen in Gürtelregionen und an Gelenken. Diese verhindern in jeder Haltung und bei jeder Bewegung unnötige Schwankungen der stabilisierenden Körperteile, wie wir dies bei Neugeborenen beobachten. Die segmentale Muskelaktivität wird bereits durch die Bewegungsabsicht (feed forward) fazilitiert. Durch die optische, teilweise auch durch die akustische Afferenz wird die Intensität der synergistischen Muskel­aktivierung eingestellt. Erst durch diese gezielt eingestellte Haltung (posture) kann eine Bewegung chronologisch zielgerichtet durchgeführt werden. Durch die Rückkopplung (feed back) erfolgt die Feinjustierung und evtl. die Korrektur der posturalen Reaktion.

Posturale Programme sorgen für eine fließende Bewegung in Muskelketten. Während jeder Bewegung wird der Wechsel der posturalen und phasischen Funktion der Motorik berechnet und genau gesteuert. Überschießende Bewegungen werden vermieden, wie wir dies bei kleinen Kindern beobachten können. Die posturalen Schlüssel­regionen des Körpers (Kopf-, Schulter- und Beckengürtelregion) werden über die posturale Steuerung als Fixpunkte vor und während den Extremitätenbewegungen stabilisiert.

Diese Stabilisierung eines Körperteils oder einer Lokomotion beinhaltet zwei Elemente:

Das ZNS definiert automatisch Fixpunkte für die Bewegung.

Durch synergistische Kokontraktionen der Muskelgruppen werden die Freiheitsgrade an den Gelenken eingestellt.

Ein neugeborenes Kind ist das beste Beispiel für eine Motorik, in der noch völlig unreife posturale Reaktionen vorkommen. Die posturale Steuerungsfunktion wird durch geeignete Eingangs­informationen (Afferenzen) stetig aktiviert und erhöht. Das neugeborene ist nicht in der Lage, eine gezielte Bewegung durchzuführen. Die Stabilisierung der Körperlage gegen die Schwerkraft ist noch insuffizient.

Die phasische Funktion der Motorik

Die phasische Funktion der Motorik sorgt für den Lagewechsel (phasis [gr.] die Veränderung). Das Ziel ist die Veränderung der Lage (Lokomotion) auf der Basis der beschriebenen, stabilen posture.

Wenn die Veränderung der Lage eines Körperteils oder des ganzen Körpers das aktuelle Ziel der Motorik ist, müssen die posturalen Programme augenblicklich gehemmt werden. Sie werden nicht unterdrückt, sonst wäre die Bewegung völlig diffus und instabil (wie bei der Athetose zu beobachten), sondern die posturalen Reaktionen müssen dosiert eine gewisse Zeit gehemmt werden.

Die motorische Kybernetik verwendet bei Legewechseln mit größeren Winkelveränderungen in Gelenken das Steuerungsprinzip der reziproken (antagonistischen) Hemmung.

Die Ausführung einer Lokomotion wird durch diese reziproke Inhibition in komplexen Muskelschlingen bzw. -verkettungen ermöglicht.

Beispiel: Praktisch kann z.B. ein schneller Schritt nach vorne nur durch eine rasche, intensive Aktivierung der Hüftflexoren der Spielbeinseite während der gleichzeitigen (reziproken) Inhibition der ipsilateralen Hüftextensoren durchgeführt werden.

Für die Fortbewegung des Rumpfes nach vorne benötigt man am Standbein jedoch wieder die konzentrische Aktivierung der Hüftextensoren in Zusammenarbeit mit exzentrischer Koaktivierung der Hüftflexoren. Dies repräsentiert wiederum die posturale Funktion der Motorik.

Die posturale Funktion (funktionelle Stabilisierung) kann von der phasischen Funktion der Motorik nie getrennt werden!

Steuerungsprinzip der reziproken Hemmung

Nach dem Prinzip der reziproken (wechselseitigen) Hemmung werden die zu den agierenden Muskeln entgegenliegenden Muskeln antagonistisch gehemmt.

Antagonistisch bedeutet, dass die Aktivierung eines Muskelverbundes die Aktivierung des funktions­entgegen­gesetzten Muskel­verbundes inhibiert. Der Muskelpartner wird in der phasischen Funktion als Antagonist bezeichnet. In der posturalen Funktion arbeiten die gleichen Muskeln als Synergisten, z.B. im Stehen.

Im Stehen und im Sitzen wird die rechtzeitige Positionierung im Segment ohne Hilfe der Trägheit der Masse durch posturale Programme gesteuert.

Bei der Lokomotion dagegen erleichtert die Trägheit der Masse die Gleichgewichtssteuerung.

Man kann sich z.B. das langsame und das schnelle Radfahren vorstellen. Beim schnellen Radfahren hält man das Gleichgewicht viel leichter, weil die Trägheit der Masse stabilisiert. Beim langsamen Radfahren dagegen muss man sich auf die Gleichgewichtssteuerung sehr konzentrieren, da nur eine geringe Trägheit der Masse wirkt.

Die Trägheit der Masse hilft bei der Stabilisierung während der phasischen Bewegung. Diese fehlt beim Arbeiten im Stehen und im Sitzen.

Posturale Programme als Bewegungsstabilisatoren

Man sollte die posturale Steuerung nicht lediglich auf das Stehen und Sitzen reduzieren. Jede Bewegung muss funktionell stabilisiert werden.

Die posturalen Programme bestimmen die harmonische Abnahme oder Zunahme der exzentrischen Muskelaktivierung während der Bewegungen. Dadurch wird eine überschießende Bewegung vermieden. Ferner müssen die Gürtelregionen als Fixpunkte vor und während jeder Bewegung in ruhiger Lage, ohne größere Ausweichbewegungen gehalten werden. Dafür sorgt die posturale Steuerung.