In dieser fünfteiligen Artikelserie stelle ich Ihnen grundlegende Überlegungen zur funktionellen Schmerztherapie des Bewegungssystems dar. Funktionell bedeutet in diesem Zusammenhang, das zum einen Schmerzen, verursacht durch Funktionsstörungen der zentralmotorischen Steuerung, angegangen werden, das wir aber auch einen neuro-logischen, holistischen Ansatz zur nachhaltigen Beseitigung der Schmerzen wählen.
In diesem dritten Teil geht es um die Darstellung der motorischen Stabilisierung, dem Einfluss der Nozizeption auf die Motorik und die posturale Dysfunktion.
Stabilisierung der Motorik
In der menschlichen Motorik werden, vereinfacht ausgedrückt, zwei Funktionen unterschieden, vergleichbar mit dem Betriebssystem eines Computers [11] [13]:
- Die posturale Funktion (Ziel: Einhalten einer Körperlage ohne unnötige Schwankungen und ruhige Positionierung bestimmter Körperregionen bei Bewegungen anderer Körperregionen = Stabilisierung).
- Die phasische Funktion (Ziel: Wechsel der Körperlage = Kinetik).
Diese zwei Funktionen ergänzen sich. Jede Bewegung eines Körperabschnittes (Mobilpunkt) muss rechtzeitig durch die posturale Funktion stabilisiert werden [14] [25] [29]. Als posturale Funktion bzw. posturale Reaktionen bezeichnet man synergistische Muskelaktivierungen an tragenden und peripheren Gelenken. Diese verhindern in jeder Haltung und Bewegung unnötige Schwankungen der Gürtelregionen und anderer zu stabilisierenden Körperteile [18]. Die Gürtelregionen des Körpers werden über die posturale Steuerung als Fixpunkte vor und während den Extremitätenbewegungen stabilisiert und durch die synergistischen Kokontraktionen werden Freiheitsgrade an Gelenken eingestellt [18]. Die segmentale Muskelaktivität wird bereits durch die Bewegungsabsicht („feed-forward“) gebahnt [21] [25]. Durch die optische Afferenz wird die Intensität der synergistischen Muskelaktivierung voreingestellt. Erst durch diese gezielt eingestellte Haltung („attitude-posture“) kann eine Bewegung zielorientiert durchgeführt werden. Durch die Rückkopplung („feed-back“) erfolgt die weitere Korrektur der posturalen Reaktion im Sinne eines Regelkreises [9]. Während jeder Bewegung wird der Wechsel der posturalen und phasischen Funktionen der Motorik berechnet und genau gesteuert [20]. Der posturalen Funktion kommt in unserer Motorik eine überragende Bedeutung zu. Sie muss sowohl die Körperhaltung als auch die Bewegung zeitgleich sichern und sorgt für fließende, zielgerichtete Bewegungen in funktionellen Muskelketten [25] [26]. Überschießende Bewegungen werden vermieden.
Nozizeption und Motorik
Die Nozizeption stellt einen Informationsinput (Afferenz) aus freien Nervenendigungen im Gewebe dar. Diese melden potentielle und entstandene Schäden (chemisch, physikalisch) des Gewebes dem ZNS. Erst wenn der nozizeptive Input die kortikale Ebene des ZNS erreicht, kann er bei entsprechender Perzeption als das Gefühl „Schmerz“ interpretiert werden [vgl. 30].
Für die Schmerztherapie ist die Differenzierung zwischen zwei Arten der Nozizeption wichtig: Die strukturelle Nozizeption entsteht bei destruktiven Prozessen im Gewebe, Reibung in Engpässen, entzündlichen Veränderungen etc. Die funktionelle Nozizeption entsteht bei Überlastung der muskuloskelettalen Strukturen des Körpers ohne strukturelle Schädigung, z.B. bei isometrischer Muskelaktivität. Typische Quellen funktioneller Nozizeption stellen die Triggerpoints, Tenderpoints und andere Funktionspathologien des Muskeltonus wie die Tendomyosen [3] dar. Beide Arten der Nozizeption verändern die Bewegungsprogramme [3]. Aus unserer klinischen Praxis können wir postulieren, dass die Intensität der funktionell bedingten Schmerzen nicht geringer als die Intensität der Schmerzen aus entzündlichen oder traumatischen Ursachen ist.
Posturale Dysfunktion
Etwa 85-90% der Schmerzen des Bewegungssystems sind „unspezifisch“ [13] [16]. Diese liegen nach unseren klinischen Beobachtungen einer mangelnden funktionellen Stabilisierung der Motorik zugrunde. Die Ursachen unterteilen wir in funktionell periphere und funktionell zentrale.
Die funktionell peripheren Ursachen kommen durch wesentlich veränderte afferente Informationen (akut oder chronisch) aus den Rezeptoren zustande. Durch zunehmend monotonene Tätigkeiten (z.B. langes Sitzen oder Stehen, langes Arbeiten in monotonen Bewegungsabläufen) werden die afferenten Informationen aus den propriozeptiven und vestibulären Rezeptoren ebenso monoton und langfristig reduziert [21]. Dies kann zu einer Veränderung der posturalen Kybernetik führen [12]. Die Steuerung der segmentalen Muskulatur verändert sich in eine Hemmung, was zu einer vermehrten Bahnung der polysegmentalen Muskeln führen kann, um die Stabilisierung („posture“) des Axisorgans und tragender Gelenke aufrecht zu halten. Dafür sind die polysegmentalen Muskeln biomechanisch, metabolisch und kybernetisch nicht geeignet [21]. Die resultierenden anhaltenden isometrischen Muskelkontraktionen führen zu ihrer Überlastung und einem erhöhten funktionellen nozizeptiven Input. Die Motorik wird destabilisiert, was wir als „posturale Dysfunktion“ bezeichnen („Postural Defects“ n. Janda [12], „Muskelkontrolldefizit“ n. Richardson et al. [21]). Des Weiteren sind muskuläre Dysbalancen, die sich als Schutzreaktionen aus einer organischen Nozizeption entwickelt haben, periphere Ursachen für die Funktionspathologie der Motorik. Die organische Nozizeption ist bereits abgeklungen (z.B. nach einem Muskelfaserriss, Hämatom, Gelenksentzündung), hinterlässt jedoch veränderte zentralnervöse „Steuerungsprogramme“ für die Stabilisierung der Motorik [19].
Funktionell zentrale Ursachen posturaler Dysfunktionen liegen in einer Fehlinterpretation der afferenten Signale, z.B. nach einem Schleudertrauma (auch ohne unmittelbare kortikale Nozizeption), durch Fieber, Distress, Erschöpfung, Erschütterung, Schlafmangel, starke Sonneneinstrahlung und weiteren funktionellen Beeinträchtigungen zentralnervöser „Programme“. Die Dysfunktion der posturalen Stabilisierung erfolgt durch funktionspathologische Prozesse im ZNS.
Im vierten Teil stelle ich Ihnen Screeningmöglichkeiten posturaler Dysfunktionen vor.