In dieser fünfteiligen Artikelserie stelle ich Ihnen grundlegende Überlegungen zur funktionellen Schmerztherapie des Bewegungssystems dar. Funktionell bedeutet in diesem Zusammenhang, das zum einen Schmerzen, verursacht durch Funktionsstörungen der zentralmotorischen Steuerung, angegangen werden, das wir aber auch einen neuro-logischen, holistischen Ansatz zur nachhaltigen Beseitigung der Schmerzen wählen.
In diesem zweiten Teil geht es um die Darstellung der sensomotorischen Steuerung sowie um unsere Muskelschichtung im Kontext der posturalen Kybernetik.
Sensomotorische Steuerung
Zielmotorische Aktionen können vereinfacht dargestellt auf zwei Wegen zustande kommen: Der motorische Output entsteht im ZNS oder die sensorische Information aus der Peripherie (v.a. Augen, Vestibulum, Propriozeption, Nozizeption) wird in verschiedenen Ebenen des ZNS bearbeitet und als motorischer Output zu den Ausführungsorganen weitergeleitet [4].
Didaktisch können wir das ZNS in drei Ebenen unterteilen [15]. Diese drei Ebenen sind ontogenetisch dadurch charakterisiert, dass sie sich heterochron myelinisieren [25].
Die erste motorische Steuerungsebene ist die spinale. Auf dieser Ebene erfolgt die Steuerung der Muskelfasern durch alpha-Motoneurone sowie die Einstellung der Muskelspindel durch gamma-Motoneurone [15] [22] [25]. Bei den alpha-Motoneuronen differenzieren wir phasische und tonische, was Bedeutung für das Kontraktionsverhalten des Muskels haben kann [2] [12] [14] [15]. Interneurone sind zuständig für die reflektorische Hemmung von Antagonisten, für die Verteilung der Reizlateralität und die Potentialverteilung („Informationsverteilung“) auf die phasischen und tonischen Alphamotoneurone [23] [31].
Nozizeptive Eingangsinformationen können die Reizbarkeit der Interneurone im Segment verändern. Dies kann zu einer reflektorischen Hemmung oder Bahnung der Muskelfasern führen, je nach Art des alpha-Motoneurons [12] [24]. Als klinisches Bild entstehen z.B. myofasziale Maximalpunkte und segmentale Mobilitätsrestriktionen (i.S. einer Steuerungsstörung nach Coenen [5]) [12].
Die spinale Ebene enthält die phylo- und ontogenetisch ältesten Steuerungsprogramme im ZNS. Eine der charakteristischen Eigenschaften ist die reziproke Hemmung [12] [25]. Diese gegenläufige Hemmung beobachtet man klinisch beim neugeborenen Kind im Sinne einer physiologischen Muskeldysbalance mit erhöhter Reizbarkeit der Flexoren, Adduktoren und Innenrotatoren. Es kann noch keine zielorientierte Haltung zu einer gezielten Bewegung einnehmen. Die posturale Stabilisierung wird klinisch dann ersichtlich, wenn die übergeordneten zentralnervösen Strukturen (supraspinale Ebene) die Rückenmarksfunktionen zunehmend regeln [25] [29] (siehe auch Teil 1).
Die zweite motorische Steuerungsebene ist die supraspino-subkortikale Ebene. Auf dieser ZNS-Ebene erfolgt die Auswahl der automatischen posturalen stabilisierenden Strategien in Kooperation mit dem Rückenmark. Die Muskelaktivierung erfolgt in funktionellen Bewegungsketten [25].
Nozizeptive Eingangsinformationen können auf dieser Ebene zu Veränderungen der posturalen Steuerung führen [12]. Als klinisches Bild entstehen „Ausweichbewegungen“ („nozizeptiver somatomotorischer Blockierungseffekt“ nach Brügger [3]) und Bewegungseinschränkungen („polysegmentale Blockaden“).
Die dritte motorische Steuerungsebene ist die kortikale. Auf Ebene der Hirnrinde erfolgen u.a. die Initiation der bewussten Bewegungen sowie die Interpretation komplexer Reize als Empfindungen. Nozizeption auf dieser Ebene kann als das individuelle, subjektive Gefühl „Schmerz“ unterschiedlich intensiv interpretiert und verarbeitet werden [17] [30]. Motorisch zeigt sich eine bewusste Veränderung des Bewegungsverhaltens.
Muskelschichten und posturale Kybernetik
Der Effektor der posturalen Programme ist die Skelettmuskulatur [11] [13] („exekutive System“ nach Schmidt et al. [22]). Diese können wir für die klinische Betrachtung in zwei Gruppen einteilen (Abb. 3) [1].

Zum einen in die segmentale (lokale) Muskelschicht (Abb. 3 links). Diese überzieht ein artikuläres Segment, z.B. die Mm. rotatores breves an der Wirbelsäule oder der M. vastus medialis am Kniegelenk. Für die Stabilisierung der Motorik haben die segmentalen Muskeln Bedeutung [14]. Sie sorgen zum einen für eine feine Adjustierung des artikulären Segmentes und stellen die Position der Gelenkkörper rechtzeitig vor der Bewegungsausführung („feed-forward“) in ihren anatomischen Grenzen ein [21]. Neben der motorischen Funktion kommt ihnen eine entscheidende sensorische Funktion zu [21]. Die segmentalen Muskeln besitzen eine zehnmal höhere Dichte an Spindelrezeptoren als die übrigen Rückenmuskeln [32] („propriozeptive Signalanlage“ nach Coenen [5]). Bei geringen Körperschwerpunktverlagerungen (z.B. Arbeit am PC) reicht die vorwiegende Aktivierung der segmentalen Muskeln, um das dynamische Körpergleichgewicht zu sichern [21]. Bei größer werdenden Körperschwerpunktverlagerungen wird sukzessive die zweite Muskelgruppe, die polysegmentalen (globalen) Muskeln, aktiviert (Abb. 3 Mitte). Sektorale (kurze polysegmentale) Muskeln überziehen an der Wirbelsäule vier bis sechs Segmente, z.B. die Mm. semispinalis, longissimus oder iliocostalis. Sie werden bei größeren Körperschwankungen stabilisierend aktiviert. Lange polysegmentale Muskeln überziehen an der Wirbelsäule mehr als sechs artikuläre Segmente, z.B. der M. latissimus dorsi (Abb. 3 rechts). An den unteren Extremitäten sind es mehrgelenkige Muskeln, z.B. der M. rectus femoris. Die langen polysegmentalen Muskeln haben kinetische Funktion, synergistisch stabilisieren sie z.B. beim Heben schwerer Gewichte [21].
Je tiefer die Lage der Muskelschicht, desto größer die sensorisch-stabilisierende Funktion („posture“). Je oberflächlicher die Lage der Muskelschicht, desto größer die kinetische Funktion („phasis“).
Lesen Sie in Teil 3: Stabilisierung und Dysfunktion der Motorik.
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