In dieser fünfteiligen Artikelserie stelle ich Ihnen grundlegende Überlegungen zur funktionellen Schmerztherapie des Bewegungssystems dar. Funktionell bedeutet in diesem Zusammenhang, das zum einen Schmerzen, verursacht durch Funktionsstörungen der zentralmotorischen Steuerung, angegangen werden, das wir aber auch einen neuro-logischen, holistischen Ansatz zur nachhaltigen Beseitigung der Schmerzen wählen.
In diesem ersten Teil geht es nach der folgenden Einleitung um die posturale Ontogenese und deren Bedeutung für die funktionelle Schmerztherapie.
Einleitung
In der funktionellen Schmerztherapie wird die Beseitigung der Schmerzen im Bewegungssystem durch dosierte, gezielt gegebene Reize an den Sensoren mit dem Ziel der Beeinflussung zentralmotorischer Programmfunktionen erreicht. Damit könnten wir auch von einer sensomotorischen Schmerztherapie sprechen.
Die Motorik als Ausdruck eines komplexen Steuerungs- und Regelungssystems (Biokybernetik) des Bewegungsverhaltens in Raum und Zeit [vgl. 6] beinhaltet drei wichtige Komponenten:
Zum einen die Qualität der Eingangsinformation (Afferenz) und ihre kodierte Übertragung (Nervenbahnen).
Zum anderen die Qualität der Dekodierung und Bearbeitung der Daten („Softwareprogramme“ im ZNS) mit daraus folgender Ausgangsinformation (Efferenz).
Schließlich das intakte muskuloskelettale System mit seinen Infrastrukturen (Gefäße) [vgl. 4].
Die Schmerztherapie beinhaltet Übungstechniken: Hemmende und bahnende exterozeptive, propriozeptive und vestibuläre Stimulationen, die mit dem Ziel der Besserung der realitätsnahen gezielten posturalen Stabilisierung durchgeführt werden. Leitwert der klinischen Beurteilung posturaler Reaktionen während der Behandlung ist die Gesetzmäßigkeit der posturalen Ontogenese.
Die Posturale Ontogenese
Die Posturale Ontogenese beschreibt die Entwicklung der motorischen Stabilisierung zur Vertikalisierung des Menschen und die stufenweise Einschaltung der posturalen Programme [25]. Diese posturalen Programme steuern die stabilisierenden synergistischen Muskelspiele, welche die Fixpunkte (z.B. Schultergürtel) rechtzeitig für die Mobilpunkte (z.B. Arme) einstellen. Der posturalen Ontogenese kann man entnehmen, warum bestimmte Muskeln im Rahmen einer Fehlsteuerung der posturalen Stabilisierung (posturale Dysfunktion) gehemmt (inhibiert), andere überschießend gebahnt (hyperfazilitiert) und individuell schmerzhaft überlastet sind.
Die Qualität der Stabilisierung der Motorik im Säuglingsalter hängt von der Reifung der posturalen Steuerung und damit von der Myelinisierung der spinalen und supraspinalen Strukturen ab [vgl. 7]. Durch das spontane Bewegungsverhalten (Strampeln) des gesunden Kindes entstehen in Rezeptoren Afferenzen, die die stufenweise Einschaltung der genetisch gegebenen stabilisierenden posturalen Rahmenprogramme („Firmware“) zur Vertikalisierung bewirken. Unbehinderte Ströme der vestibulären, propriozeptiven und optischen Eingangsinformationen sind hierfür notwendig. Die posturalen Programme zeigen sich klinisch durch synergistische Muskelaktivität. Diese kommen erst mit der Reifung der supraspinalen Steuerungs- und Regelungsebenen zustande. Störungen in der Kybernetik äußern sich durch eine mangelnde Stabilisierung [27].
Die posturale Ontogenese ist nach Vojta [29] etwa ab der vierten bis sechsten Lebenswoche zu beobachten (Abb. 1).

Durch synergistische Aktivitäten der autochthonen Muskulatur werden die Positionen eines jeden Segmentes eingestellt. Dann erscheinen erstmals mit Hilfe der optischen und akustischen Afferenz die gezielten posturalen Reaktionen und es erfolgt die Einstellung der Fixpunkte (Rumpf und Extremitäten in der Bauchlage) und Mobilpunkte (Heben des Kopfes aus der Bauchlage zu einem akustischen u. optischen Reiz) [29] (Abb. 2).

Diese Fixpunkteinstellung erfolgt zuerst in der Bauchlage. Als Ausdruck der feed-forward-Steuerung werden die sterno-symphysale Rumpfregion und der Schultergürtelbereich vor der Kopfhebung gegen die Schwerkraft eingestellt. Erst dann können die langen polysegmentalen Muskeln den Kopf zielgerichtet heben (v.a. M. spinalis capitis und M. splenius capitis). Während der Kopfhebung regelt die posturale Software die synergistische Arbeit der Stützpunkteinstellung sowie die der retro- und prävertebralen Muskeln der Wirbelsäule, damit die Kopfhebung nicht überschießt. Die Qualität der Vertikalisierung ist von den ständig neuen Einstellungen der Fixpunkte und Mobilpunkte im Bereich des Rumpfes und der Extremitäten abhängig. Zahlreiche posturale Strategien müssen durch Versuch und Irrtum im Kindesalter ausgearbeitet und automatisiert werden [27] [28] [29].
Mit dem Heranwachsen des Kindes verändert sich, v.a. im Adoleszentenalter, das Gewicht und die Länge der Extremitäten zunehmend [10]. Dies erfordert eine ständige Kalibrierung des ZNS an die neuen Hebelverhältnisse [vgl. 5], was durch lange monotone Haltungen (z.B. Sitzen in der Schule) empfindlich gestört werden kann [10]. Dies kann auf Basis insuffizienter posturaler Programme zu einer schlechten posturalen Stabilisierung führen. Diese Dysfunktion kann sich wie ein roter Faden weiter durch das Leben des Erwachsenen ziehen. Im Falle einer Inputstörung, z.B. durch eine Verletzung, nach einer Operation oder durch chronisch monotone Bewegungsabläufe (z.B. PC-Arbeit), kann dies für erhebliche Muskeldysbalancen und Misserfolge bei nicht adäquaten Behandlungstechniken verantwortlich sein.
Weiter geht es in Teil 2 mit den Grundlagen zur sensomotorischen Steuerung und den Muskelschichten im Kontext der posturalen Kybernetik.
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